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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Inge Hagner: „Erkenne Dich selbst“ in der Volksbank Dreieich, Neu-Isenburg

„Vorsicht Kunst!“

Von Esther Erfert
Kunsthistorikerin

In der Volksbank Dreieich in Neu-Isenburg läuft zur Zeit im Rahmen der Reihe „Vorsicht Kunst!“ die Ausstellung „Erkenne Dich selbst“ der Frankfurter Künstlerin Inge Hagner.

Inge Hagner, geboren 1936 in Frankfurt am Main, ist Bildhauerin und Goldschmiedin. Sie wurde bekannt durch ihre Plastiken, aber auch und vielleicht vor allem durch zahlreiche Kunstwerke im öffentlichen Raum, wie zum Beispiel die begehbare Brunnenanlage in der Frankfurter „Fressgass'“, die Rotlava-Wand im Bürgerhaus Sprendlingen, das Tor der Trauerhalle in Langen oder die Plastik „Die vier Fraktionen“ in Dietzenbach. Aber auch überregional gewann sie Wettbewerbe und arbeitete an verschiedenen Projekten, beispielsweise in Bonn, Bad Nauheim, Darmstadt, Butzbach etc. In der Ausstellung wird parallel zu den Plastiken eine kleine Dokumentation über Hagners Kunst im öffentlichen Raum präsentiert.

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(v.l.) Anima; Empathie; Mensch-Tier; Charly Parker

„Erkenne Dich selbst“, eine Inschrift am Apollontempel in Delphi, die für alle sichtbar war, die diese Stätte besuchten, gibt dieser Ausstellung den Titel. Die Selbsterkenntnis sollte im alten Griechenland als tägliche Übung die Basis für jedes sinnvolle Denken über Gott und die Welt sein. Sie beruht auf individuellen Erfahrungen und Erlebnissen, die den Menschen in seinem Denken und Handeln prägen und leiten. Sich selbst, aber auch die Welt, die Menschen um sich herum und Gott erkennen; seine Individualität wahrnehmen mit dem Blick auf andere, auf anderes, auf Fremdes. Aber immer auch mit dem Blick auf das eigene Innere. Selbsterkenntnis ist ein Persönlichkeit bildendes und Persönlichkeit erschaffendes Element. Somit ist sie kein Allgemeingut eines Volkes oder einer Gruppe, sondern eine individuelle Erfahrung. Erst, wenn ich mich selbst erkenne, werde ich fähig, selbst zu bestimmen, was ich denke, was ich will, und kann mir Ziele setzen.

Begegnung B-400

Begegnung, Gips, bemalt, 60 cm

Inge Hagners Leben ist angefüllt mit vielen Erfahrungen, ob Krieg, Nachkriegszeit, die Bekanntschaft mit vielen bekannten bildenden Künstlern oder das Erleben der Jazzmusik, in die sie schon in jungen Jahren total abtaucht. Sie lernt viele interessante Menschen kennen, die ihre Person, ihre persönliche Geschichte und ihre Kunst bis heute prägen. Ihr Denken und ihre Ansicht über das Leben stecken in ihren Plastiken. Kennt man Inge Hagner, erkennt man ihr Denken wieder und spürt es in jeder einzelnen Skulptur. Die Verbundenheit mit den dargestellten Menschen, die Liebe zu ihnen, die Faszination, aber auch die Abwehr gegenüber manchen Begebenheiten: Alles überträgt sich auf den Betrachter.

Hagners Bestreben in der Gestaltung ihrer figurativen Plastiken ist die psychische Beschaffenheit des menschlichen Wesens einzufangen. Sie versucht, den Menschen mit seinen Zwängen und Ängsten, aber auch sein Verlangen nach Willensfreiheit und Toleranz, Akzeptanz und innerer Ruhe zu veranschaulichen. Ihre Plastiken sind personifizierte Emotionen, Empfindungen und Begebenheiten und sprechen eine ganz eigene Sprache.

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(li.) Der Fremde, Gips, bemalt, 54 cm; (re.) Heller Kopf, Gips, bemalt, 56 cm

Es ist nicht das Schöne oder das Perfekte, das sie anstrebt. Nein, sie schaut in das Innere eines Menschen; erkennt Charakterzüge und Verhaltensweisen, Gedanken und Persönlichkeit; diese werden zu formbestimmenden Elementen. Die Plastik ist also keine realistische Darstellung einer Person, sondern der Ausdruck des Wesens; sie ist Erlebtes und eine Innenschau der Person. Mal ist sie grob in den Formen, rau und zerfurcht ist die Oberfläche, mal ist sie glatt und fein gestaltet. Das Besondere an Hagners Plastiken ist die Farbgebung. Expressive, intensive bis verhaltene Farbigkeit, sie erspürt die Farben nach den Themen, die sie bearbeitet. Ganz besonders sind auch die Augen der Plastiken. Sie sind groß und ungleichmäßig, sie schauen den Betrachter keck, grimmig, mißtrauisch oder offen an. Manche Augen sind verschwommen, so dass man sie nur erahnen kann.

Tänzer A-450

Tänzer, Bronze, 44 cm

Hagner beobachtet und exploriert ihre Mitmenschen nicht nur, sondern sie ist auch tief inspiriert durch andere Genres der Kunst, zum Beispiel der Musik. Ihre Begeisterung für die Jazzmusik hat ihr freiheitliches Denken und Fühlen von frühester Jugend an mit geprägt und findet natürlich auch in den Plastiken ihren Ausdruck. So stellt sie John Coltrane und Charly Parker in ihren Skulpturen dar: In sich gekehrte Persönlichkeiten, die von ihrer Musik beseelt sind und in ihr leben; Coltrane in einem silbern bewegten Wirbel, der sich, vergleichbar mit einem tanzenden Derwisch, in einer Art Trancezustand befindet.

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(li.) Charly Parker, Gips, bemalt, 45 cm; (re.) Coltrane, Gips, bemalt, 42 cm

Es ist eine Idee von einem Gefühl, die Hagner in ihren Arbeiten verkörpert, sie kehrt dass Innere nach Außen, lässt Emotionen zu Bildern bzw. Plastiken werden.

Michel Petrucciani, den kleinwüchsigen Jazz-Pianisten, stellt sie als eine Art Schalk dar, wie er so auf der Tischkante sitzt. Sie erzählt von ihrer Begegnung mit ihm in Montreux, als er auf dem Arm eines Mannes in den Raum hinein getragen wurde, sein eines Bein hing herunter. Petrucciani hatte die Glasknochenkrankheit und immer mit Knochenbrüchen zu kämpfen. Die Fragilität und Empfindlichkeit greift sie in der Art der Gestaltung der Plastik auf. Die Figur ist durchlöchert und hält sich durch Stege aus Gips aufrecht; sie besitzt große Hände und Füße. Trotzdem strahlt sie Fröhlichkeit und eine gewisse Leichtigkeit aus. Nichts an ihr ist traurig oder dramatisch.

Petrucciani A-450

Petrucciani, Gips, bemalt, 75 cm

In einigen Arbeiten nimmt sie aber auch direkten Bezug auf Zeitgeschehnisse. Sie setzt sich mit aktuellen Vorkommnissen auseinander und findet für sie eine figurative Bildsprache.

Eine Plastik trägt den Titel Lampedusa. Es ist der Name der Insel im Mittelmeer, die für die italienischen Behörden als Vorposten gilt, illegale Einwanderer auf ihrem Weg nach Europa abzufangen. Dargestellt ist ein von der Sonne geröteter Tourist, in dessen Sonnenbrille sich das ganze Drama der untergehenden Boote spiegelt. Dieser Tourist hat keine Ohren und trotz seiner großen Augen sieht er nichts. Er steht am Strand und schaut; ignoriert, was passiert und handelt nicht. Das reale Drama läuft an ihm vorbei wie ein Film, er nimmt es nicht wirklich wahr.

Der Psychopath B-450

Psychopath, 2015, Bleistift auf Papier, 30 x 40 cm

In der Zeichnung Psychopath setzt sie sich mit dem Absturz der Germanwings-Maschine auseinander, der durch den Copilot am 24. März letzten Jahres herbei geführt wurde. Drei Tage später entsteht diese Zeichnung. Vier Gesichter, die jeweils in eine andere Richtung sehen; eines schaut gen Himmel, den er sich für sein, aber auch das Ende der anderen 149 Menschen an Bord ausgesucht hatte. Die Zeichnung markiert in einer ästhetisch bildgewordenen Form die Orientierungslosigkeit und Verlorenheit eines psychisch kranken Menschen, die solch ein Drama herbei führen können. Die Darstellung ist dabei aber nicht wertend, sondern ein persönlicher Weg, sich mit solch einem Geschehen auseinander zu setzen und es als Bild zu manifestieren.

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(li.) Lampedusa, Gips, bemalt, 34 cm; (re.) Nachbar, Gips, bemalt, 33 cm

Nicht immer aber sind die Themen Hagners dramatisch in der Aussage, auch mit ganz normal-menschlichen Vorkommnissen, die jeder kennt, setzt sie sich auseinander: Ein grimmig dreinschauendes Gesicht; eckige Gesichtsformen und tiefe Furchen in schwarz, weiß und grau. Fast jeder hat schon die Bekanntschaft mit dieser Person gemacht. Diesem Gesicht würde man nicht vertrauen, diese vergrämte Person möchte einem bestimmt nichts Gutes und in seiner Nähe will man einfach nicht sein. Die Rede ist von dem Nachbar, dem jeder von uns sicher schon mindestens einmal im Leben begegnet ist und der einem das Leben zur Hölle machen kann.

Eine Plastik, der wir uns auch widmen wollen, ist Epikur. Wie eine Säule, total eins mit sich, steht er auf einem Fuß vor uns. Epikur ruht in sich, er hat eine in sich geschlossene Haltung, blockhaft; in einem gedeckten Weiß erscheint er wie aus Marmor gemeißelt. Der griechische Philosoph, dessen Philosophie Freiheit von Furcht, körperlichen Schmerzen und Begierden anstrebt: Nur darin sieht er eine Möglichkeit, dauerhafte Lebenslust und Seelenruhe zu erlangen.

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(li.) Lady, Gips, bemalt, 123 cm; (re.) Epikur, Gips, bemalt, 155 cm

Auch er beschäftigt sich im Sinne des „Erkenne Dich selbst“ mit dem Individuum. Seine Philosophie basiert auf dem individuellen Seelenheil, das hier und jetzt, in diesem Leben stattfindet und nur stattfinden kann, denn für ihn gibt es keine Götter, die in das Leben der Menschen eingreifen und das Weltgeschehen beeinflussen. Der Mensch allein ist für sich verantwortlich und muss in keiner Gottesfurcht leben.

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„Erkenne dich selbst“, Gips, bemalt, 60 cm

Über allem thront erhaben wie in einer Apsis die Plastik „Erkenne Dich selbst“. Der Raum bekommt durch das Licht, die Anordnung der Podeste und Skulpturen etwas sakrales, tempelhaftes. Sehen Sie dieser Plastik tief in die Augen und Sie werden erstaunt sein, was Sie sehen! Sie wirft den Betrachter auf sich selbst zurück, aber lässt die Umwelt um ihn herum nicht ganz verschwinden – ganz im Sinne des Spruchs „Erkenne Dich selbst“.

Inge Hagner: „Erkenne dich selbst“, Volksbank Dreieich/Neu-Isenburg, bis 18. Mai 2016

Fotos: Esther Erfert

→ Inge Hagner zum 80. Geburtstag

 

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