home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Breslau / Wrocław: Europäische Kulturhauptstadt 2016 (5)

Wroclawskie Krasnale oder: in Breslau leben Zwerge

Von Winfred Kaminski (Breslau)

Wer lange in Köln gelebt hat, kommt an August Kopischs neoromantischen Heinzelmännchen nicht vorbei, wer in Deutschland lebt, dem sind nicht selten Gartenzwerge heilig, den Dänen sind ihre nissemanden sehr wichtig und im Münsteraner Tatort tritt die Zwergin Alberich auf und von ferne grüsst Richard Wagner. In Breslau aber gibt es mehrere hundert „Krasnale“ (dt. Zwerge) verteilt in der ganzen Stadt. Sie sind allgegenwärtig und doch nach Zwergenart immer wieder versteckt und manchmal auch nicht mehr an dem Ort, an dem wir sie vermuten oder gestern noch gesehen hatten.

Es ist nicht einfach, Zwerge zu charakterisieren. Gewiß, sie gehören zum „kleinen Volk“, sind uns als Märchenzwerge vertraut und bieten Hilfe an, aber sie können auch Ärger bereiten, wenn wir sie nicht gebührend behandeln. All das hat die Volkskunde längst erforscht und in den Handbüchern (Stichwort: Däumling) verzeichnet. Nun ist jedoch in Breslau – mitten in der Stadt – ein neues Zwergenvolk gewachsen.

Papa Zwerg-400

Anführer und erster ist „Papa Zwerg“ auf der Swidnicka (ehemals: Schweidnitzer Strasse). Er ist unübersehbar, weil er grösser geraten ist als die anderen und weil er mitten im Weg steht. Alle anderen sind auch präsent, meistens jedoch überraschen sie uns an Stellen, wo wir sie nicht erwartet hätten.

Die Breslauer Krasnale haben Berufe, gehen vielerlei Tätigkeiten nach

L1260422-650

oder sind auch Faulenzer. Jedenfalls sind sie mittlerweile so in die Geschichte der Stadt einbezogen, dass es einen eigenen Stadtplan gibt, der ihre Aufenthaltsorte angibt, und Familien sind eingeladen, mit ihren Kindern eine Stadtrallye auf den Spuren der Zwerge zu veranstalten. Bis heute soll es jedoch noch nicht gelungen sein, alle zu entdecken. Das wäre ja auch ein richtiges Wunder! Die Cleverness der Zwerge ist gross und wenn man weiss, dass sie fleissige Handwerker sein können, dass manche wohlausgebildet sind, dass andere wie einst Sisyphus den schweren Stein schieben,

Sisyphos Zwerge-650

sie in der Oder waschen, als Schmied arbeiten, dass sie freundlich sein können und zum Beispiel Piroggen backen, dann verwundert es nicht, wenn das städtische Tourismus-Büro sie längst zum Ereignis und Wahrzeichen erklärt hat. Und das will etwas heissen neben dem historischen Rathaus und dem gotischen St. Johannes-Dom.

Die Breslauer Zwerge sind so verschieden wie die Menschen im heutigen Breslau, aber ein Kennzeichen haben sie mit den Breslauern gemeinsam, das ist die Begeisterung für Musik und Theater. Deshalb befinden sich nämlich sowohl vor dem erst im Herbst 2015 eröffneten Nowy Forum Muzyki (dt. Neues Musikforum) ein ganzes Zwergenorchester

Zwergenorchester-670

und vor dem städtischen Teatr Lalek (dt. Puppentheater) begegnen wir schauspielernden Zwergen, die das Publikum erfreuen.

Zwerg mit Spiegel-650

Zum Erfolg der Krasnale hat gewiß beigetragen, dass es Breslauer Künstler sind, die immer neue Gestalten und Situationen erfinden und so das Zwergenvolk und die Geschichten um sie herum wachsen lassen. Wenn wir aber die Galerie durchgehen, dann tauchen ein paar Figuren auf, die wir so vielleicht nicht erwartet hätten, nämlich den studentischen Zwerg, den lesenden Zwerg , den Professorenzwerg

digitaler Zwerg-650

ATT00141-650

und den demonstrierenden Solidarnosc-Zwerg. Hier stossen wir auf die dann doch etwas zurückliegende Entstehungsgeschichte der Krasnale. Wir müssen bis in die frühen achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück, in die Zeit der polnischen Oppositionsbewegung gegen ein totalitäres Regime. 1981 wurde in Breslau die „Orange Alternative“ (poln. Pomarańczowa Alternatywa) gegründet. Das war eine von Studenten und Professoren der Breslauer Universität – einer ihrer führenden Köpfe war der Student Waldemar Fydrych (genannt „Major“) – organisierte künstlerische und politische Aktionsgruppe. Sie stand und steht in der Tradition der Happenings und der niederländischen „Kabouters“-Bewegung. Kennzeichen war die orangefarbene Zipfelmütze.

Die Aktivisten der „Orange Alternative“ trieben, wie es sich für Zwerge gehört, ihren (ernst gemeinten) Schabernack mit den politischen, kommunalen und polizeilichen Autoritäten und machten sich einen Spaß daraus, anarchisch-antiautoritär gegen die staatlichen Mächte zu agieren. Das Zwergengewand war ihnen zugleich Schutz vor den Autoritäten und Kennzeichen für alle. Dabei wurde dieser „Zwergenaufstand“ in Breslau ein entscheidendes Element in der politischen Auseinandersetzung mit den zu Zeiten des Kriegsrechts herrschenden politischen Kräften und Unterdrückern. Und, wer weiß, vielleicht wissen die Krasnale sich auch heutzutage erneut gegen übermässige und unrechtmässige staatliche Machtansprüche zu wehren. Jedenfalls ist nicht bekannt, dass Zwerge „Enten“ (poln. kaczka) besonders schätzten.

L1260418-450

Fotos: Winfred Kaminski (6) und FeuilletonFrankfurt(2)

→ Breslau / Wrocław: Europäische Kulturhauptstadt 2016 (1)
→ Breslau / Wrocław: Europäische Kulturhauptstadt 2016 (2 – Dom, Ägidiuskirche, Rathaus)
→ Breslau / Wrocław: Europäische Kulturhauptstadt 2016 (3 – Universität und Barockes Breslau)
→ Breslau / Wrocław: Europäische Kulturhauptstadt 2016 (4 – Kirchen)
→ Breslau / Wrocław: Europäische Kulturhauptstadt 2016 (6 – Stadt der Brücken)
→ Breslau / Wrocław: Europäische Kulturhauptstadt 2016 (7 – Der Ring/Rynek)


Comments are closed.