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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

STURM-FRAUEN. KÜNSTLERINNEN DER AVANTGARDE IN BERLIN 1910–1932 (Teil 2)

Eine Ausstellung in der Frankfurter Schirn Kunsthalle (Teil 2)
Die Künstlerinnen der Avantgarde

In geschwungenen S-Kurven durchteilen langestreckte Wände den schmalen Bau der Frankfurter Schirn. Auf unterschiedlichen Farbhintergründen wird jede der 18 STURM-Frauen mit ihren Hauptwerken präsentiert; Künstlerinnen aus Deutschland, den Niederlanden, aus Belgien, Frankreich, Schweden, der Ukraine oder aus Russland. Ihre Arbeiten wurden allesamt in der STURM-Galerie in Berlin ausgestellt oder/und in der STURM-Zeitschrift veröffentlicht: Vjera Biller, Marcelle Cahn, Sonia Delaunay, Marthe Donas, Alexandra Exter, Natalja Gontscharowa, Helene Grünhoff, Jacoba van Heemskerck, Sigrid Hjertén, Emmy Klinker, Magda Langenstraß-Uhlig, Else Lasker-Schüler, Gabriele Münter, Hilla von Rebay, Lavinia Schulz, Maria Uhden, Nell Walden und Marianne von Werefkin. Nur wenige wie Gabriele Münter, Marianne von Werefkin, Sonia Delaunay sind uns heute noch gut bekannt, andere zu Unrecht vergessen. Die Moderne haben diese leidenschaftlichen Frauen auf jeden Fall entscheidend mit beeinflusst.

Hintergründe und eine Auswahl von Petra Kammann

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Foto: Petra Kammann

Wie kam es dazu, dass sich diese so verschiedenartigen Künstlerinnen im STURM-Kreis versammelten? Die Gründe sind vielfältig, haben sie doch auch mit der individuellen Biographie und jeweiligen Herkunft zu tun. Grundsätzlich hatten in jener Epoche Frauen aber die schlechteren Ausbildungsbedingungen. Bis 1918 durften sie noch nicht einmal wählen. Nach dem Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik, änderte sich das, als Frauen berufstätig wurden und ihr eigenes Geld verdienten. Bis in die 1920er Jahre durften Frauen keine staatlichen Kunstakademien besuchen. Und private Institute zur Ausbildung ihrer künstlerischen Fähigkeiten kosteten in der Regel Geld. Hinzu kam, dass diese Frauen öffentlich auch sehr selten wahrgenommen wurden, denn das bohemehafte Künstlerbild vertrug sich besonders schlecht mit den gesellschaftlichen Erwartungen an sie. So wurde über die „Malweiber“, „solche die heiraten wollen und solche, die auch kein Talent haben“ gespottet. Herwarth Walden empfand sich aber grundsätzlich als idealistischer Vorkämpfer der modernen Kunst. Für ihn zählte allein das Neuartige und die Qualität der Kunst. Als er mit der STURM-Galerie den Künstlerinnen damals die Chance gab, sich zu präsentieren, war das alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Die Folge war dann auch die Wertschätzung ihrer Werke.

So diente der STURM auch den Künstlerinnen als Ausstellungs- und Zufluchtsort.

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Hilla von Rebay (mit Hut) im Kreis ihrer Mitstudenten und -studentinnen in der Debschitz-Schule, München, ca. 1911, Foto: Archiv Rebay-Haus Teningen

„Unter den Kunsthändlern seiner Epoche war Walden einzigartig: Er förderte Künstler und Künstlerinnen gleichermaßen, ohne die für die damalige Zeit typischen Vorurteile zu beachten. Rund ein Fünftel der STURM-Künstler waren Frauen. Damit unterschied er sich von vielen Galeristen seiner Zeit, wie etwa Paul Cassirer, Alfred Flechtheim und Wolfgang Gurlitt in Berlin oder Heinrich Thannhauser in München. Während damals über die Frauen in der Bildenden Kunst diskutiert und ihnen Originalität und Kreativität abgesprochen wurden, ließ Walden sich davon nicht beeinflussen. Für ihn stand das einzelne Kunstwerk im Vordergrund. Er setzte sich immer für das Allerneueste in der Kunst ein, scheute dabei weder Unverständnis noch Konfrontation, dachte und handelte international und suchte ständig nach Netzwerken in allen künstlerischen und intellektuellen Bereichen,“ so die Ausstellungskuratorin der Schirn Ingrid Pfeiffer, die das Projekt der STURM-Frauen von langer Hand geplant und mit intensiven Recherchen begleitet hat. Sie vergleicht die Besonderheit Waldens auch mit anderen renommierten Galeristen in den damaligen Kunstmetropolen.

Er wählte frei und unbefangen Künstler und eben auch Künstlerinnen aus, die ihm gefielen. Das machte ihn bei den anderen Galeristen und Verlegern nicht immer beliebt. Denn auch den Konkurrenten war wohl bewusst, dass der STURM als Impulsgeber für Neues und für Widerstand gegen althergebrachte Auffassungen als Netzwerk fungierte, das auch trägt und verbindet. Ansonsten war für Walden die Gleichberechtigung der Künste im Zentrum des Interesses, gleich ob Literatur, Bühnenkunst, bildende oder angewandte Kunst, Film oder Musik. Und er räumte seinen Künstlern und Künstlerinnen ein Mitspracherecht ein. Sie konnten selbst entscheiden, wie sie sich präsentieren wollten. Das trug zwangsläufig zu deren höherem Selbstbewusstsein bei. Etliche Künstlerinnen jener Epoche waren erst einmal Teil eines sogenannten Künstlerpaares wie Robert Delaunay und Sonja Delaunay-Terk, Wassily Kandinsky und Gabriele Münter, Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin, Georg Schrimpf und Maria Uhden, Michail Larionow und Natalja Gontscharowa oder Isaac Grünewald und Sigrid Hjertén.

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Marianne von Werefkin, Stadt in Litauen, 1913/14, Tempera auf Karton, 56,5 x 71,5 cm, Fondazione Marianne Werefkin, Museo Comunale d’Arte Moderna, Ascona

So stellte die einst so erfolgreiche Schülerin von Ilja Repin, Marianne von Werefkin (1860–1938), die den Ruf eines „russischen Rembrandt“ genoss, ihre eigene Malerei für zehn Jahre hintan, um es ihrem Lebensgefährten Alexej Jawlensky zu ermöglichen, sich künstlerisch zu entfalten. Sie hatte nicht nur einen großen Einfluss auf die Malerei ihres Mannes, sondern auch auf den „Blauen Reiter“. Sie selbst wurde jahrelang weder beachtet noch geschätzt. Dabei hatte sie aber schon ab 1906 damit begonnen, ein höchst eigenständiges Werk zu schaffen, indem sie auf die visuelle und emotionale Eigenwertigkeit der Farbe setzte. Ihre melancholische Grundstimmung kommt besonders in dem so sparsam komponierten wie magischen Gemälde „Mondnacht“ von 1909/10 zum Ausdruck. Eine ungewöhnliche Perspektive sowie Schatten in der menschenleeren Szenerie, in der nur ein einzelner gebeugter Spaziergänger vermummt durch den Schnee stapft, bestimmen die klare Komposition. „Der Künstler muss die moralische und psychische Welt neu erschaffen, indem er sie durch den Destilierkolben seines schöpferischen Ich schickt.“ 1913 nimmt sie noch am Herbstsalon bei Walden teil. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs muss Werefkin dann Deutschland verlassen und in die Schweiz ziehen.

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Else Lasker Schüler, Der Schlangenanbeter auf dem Marktplatz von Theben, 1912 Tusche, Buntstift und collagiertes Silberpapier, 28,3 x 22,5 cm, Franz Marc Stiftung Schenkung Stiftung Etta und Otto Stangl, © Franz Marc Museum, Kochel a. See

„Ich bin kein Mann, ich bin keine Frau, ich bin ich“, motzte Werefkin und beraubte sich damit ein wenig der Weiblichkeit, während Else Lasker-Schüler (1869-1945) Jussuf, Prinz von Theben schuf. In vielen ihrer Zeichnungen dominiert die Figur des Jussuf, der das männliche Alter Ego der Künstlerin ist und hauptsächlich in seiner aristokratischen Gestalt in Haltung und Dekor als regierender Prinz von Theben auftritt. Eines ihrer ersten Selbstporträts trägt die Beschriftung „mein Selbstbildnis (Prinz von Theben)“ Um diese orientalisierende Figur herum hat sie ein ganzes Buch aus expressiven Gedichten und Zeichnungen geschaffen. Das Ausprobieren von Identitäten sollte die Dichterin auch weiterhin beschäftigen. Lasker-Schülers erste Porträtzeichnungen waren ursprünglich entstanden, um ihre literarischen Porträts durch gezeichnete Bildnisse und Illustrationen aufzuwerten. Die wurden 1912 in der Zeitschrift DER STURM veröffentlicht und von ihr selbst als eigenständige Kreation angesehen.

Nell Walden (1887-1975), die zweite Ehefrau Waldens und Else Lasker-Schülers Nachfolgerin, wurde auch von Waldens Freund, dem Galeristen Alfred Flechtheim, außerordentlich geschätzt: „Selbst eine begabte Malerin: Blumen, Wasser, viel Wasser, ganz fraulich, keine Männerimitation, und eine Sammlerin, wie es wenige in der weiten Welt gibt“, so beschrieb er die hellblonde Schwedin Nell Roslund 1927. Sie wurde dann auch mit ihrer offenen und interessierten Art bald das Herz und die Seele des STURM. Und sie interessierte sich nach einem Besuch bei Wassily Kandinsky und Gabriele Münter in Murnau im Jahr 1914 für die spirituellen, mystischen und kosmischen Dimensionen von Kunst und Leben. Danach experimentierte sie mit Silber und Gold in der Hinterglasmalerei. Walden stellte die Arbeiten seiner Frau bis zu ihrer Scheidung 1924 regelmäßig in der STURM-Galerie in Berlin wie auch auf nationalen und internationalen Wanderausstellungen aus. Nach ihrem Fortgang  - als Journalistin und Übersetzerin unterstützte sie die Galerie auch finanziell mit ihrer zusätzlichen Arbeit – ging es jedoch auch mit der Galerie bergab.

Gabriele Münter (1877-1962), die elegante und selbstbewusste Malerin, gehörte in der deutschen Kunstszene zu den führenden Gruppierungen von progressiven Künstlern, die der „Moderne“ am Beginn des 20. Jahrhunderts zum Durchbruch verhalfen. 1909 wurde sie Gründungsmitglied der Neuen Künstlervereinigung München, aus der 1911 der „Blaue Reiter“ hervorging. Im selben Jahr porträtierte sie ihre russische Kollegin Marianne von Werefkin in leuchtenden expressionistischen Farben – ein kraftvolles Highlight der Ausstellung. Walden war von ihr so begeistert, dass er sie als erste deutsche Künstlerin in den STURM holte. Außerdem forderte er sie auf, Holzschnitte für die STURM-Zeitschrift zu machen. Die Beziehung zu Kandinsky wird jedoch zunehmend schwieriger. Ihr Blick auf ihn und die ungleiche Position von Mann und Frau wird besonders in dem Bild „Kandinsky mit Erma Bossi am Tisch“ deutlich, auf dem wir einen dozierenden Kandinsky und eine nach vorne gelehnte Erna Bossi in Landestracht sehen. Die Trennung von Kandinsky, die sich wohl da schon anbahnte, zu dem Walden jedoch auch weiterhin Kontakt haben sollte, zermürbte sie so sehr, dass sie sich sogar mit Walden überwarf.

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Sonia Delaunay, Portugiesischer Markt, 1915, Öl und Wachsfarbe auf Leinwand, 90.5 x 90.5 cm, Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Firenze

Wenn Künstler des 20. Jahrhunderts als Paar gearbeitet haben, fiel in der öffentlichen Wahrnehmung für den weiblichen Teil meist das Praktische, also auch das Kunsthandwerkliche in den Blick. Jedenfalls nicht die „reine“ Kunst. Strukturell zeichnete sich bei den Künstlerinnen Ähnliches ab: Sie tendierten dazu, sich zunächst unterzuordnen, indem sie Techniken wählten, in denen sie nicht mit dem Œuvre des Mannes konkurrieren mussten. So entwarf Sonia Delaunay (1885-1979) neben ihren Illustrationen auch außergewöhnliche Stoffe. Als die 21-jährige russische Jüdin Sonia Terk 1906 nach Paris gekommen war, tauchte sie sofort in die Avantgarde ein. Interessant, dass Stoffe, Muster, Design für sie kein Gegensatz zu jener „reinen“ Kunst waren, für die ihr späterer Mann Robert Delaunay stand. Die Farbe in all ihrer Leuchtkraft verband jedoch die beiden, und Sonia kam nach einer fauvistischen Phase zur Abstraktion. Und die ließ sich wunderbar sowohl auf der Leinwand als auch mit Flicken aus Stoff erreichen. Die Delaunays hatten sich, eine zeitlang abgesichert durch Roberts ererbtes Vermögen, während des Ersten Weltkriegs ins portugiesische Exil geflüchtet und führten in der Zwischenkriegszeit einen großzügigen Salon. Dabei wurde Mode für die mehrfachbegabte Sonia zu einer der wichtigsten Kunstformen. Und sie entwarf nicht nur Kostüme für die „Ballets russes“ von Sergej Dhiagilev, sondern passend zur Kleidung sogar eine Autokarosserie in geometrischen Mustern, was ihre Begeisterung für Tempo und Fortschritt widerspiegelte. Ihre Stoffe ließ sie in einer rotierenden Maschinerie vor dem Auge vorbeiziehen, um das Moment der Bewegung als Element ihrer Kunst zu unterstreichen.

Dann wurden auch die Delaunays von der Weltwirtschaftskrise gebeutelt. Die Weltausstellung bot 1937 die Chance, abstrakte Malerei im großen Maßstab des Wandbildes auszuführen, was Robert mit seinen Fresken für die Pavillons „der Luft“ und „der Eisenbahn“ einen späten Triumph bescherte. Sonias Arbeit stand demgegenüber zurück, dabei erhielt sie für ihr Wandbild „Portugal“ – eine Reminiszenz an die Jahre des Exils – eine Goldmedaille. Für den „Pavillon der Luft(fahrt)“ schuf Sonia drei große Tafeln, die zum ersten Mal seit 1937 ausgestellt wurden und den Raum im Palais de Tokyo geradezu sprengten. Mit all dem sorgte sie für den Unterhalt der Familie.

Auch posthum setzten sich die Frauen wie Sonia Delaunay mehr für das Werk des Partners als für ihr eigenes ein, da ihnen menschliche Beziehungen eben wichtiger waren als persönliches Erfolgsstreben. Dabei kann sich ihr Werk, das absolut auf der Höhe der Zeit ist, sehen lassen.

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Lavinia Schulz, Ganzkörpermasken und Bewegungsstudien, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2015, Foto: Norbert Miguletz

Unter den Künstlerinnen gab es ungewöhnliche und extreme Charaktere wie Lavinia Schulz (1896-1924), deren Selbstporträt mit nacktem Oberkörper und männlich kurzem Haarschnitt, ihre fast manischen Partitur-Zeichnungen und die expressiven Kostüme auf eine weibliche Ausnahmeerscheinung verweisen. Schulz und ihr Ehemann Holdt traten in gemeinsamen Tanzvorführungen in eigens dafür entwickelten genialen Ganzkörperkostümen auf, die sich in der Schirn schwungvoll im hinteren Raum zu bewegen scheinen. Lavinia Schulz hinterließ ein kleines, dafür aber umso beeindruckenderes Werk von Ganzkörpermasken und Bewegungsstudien, das die expressive Theaterperformerin ausweist. Seit 1921 wurden ihre Aufführungen von dem Musikwissenschafter und -kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt begleitet. Lavinia Schulzens Künstlerkarriere nahm allerdings ein besonders tragisches und bis heute ungeklärtes Ende. Kurz vor ihrem 28. Geburtstag erschoss sie zuerst ihren Ehemann Walter Holdt und dann sich selbst. Ein Grund könnten finanzielle Schwierigkeiten gewesen sein, da das Künstlerpaar seine Tanzvorstellungen dem Publikum ohne Bezahlung vorführte.

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Alexandra Exters Kostümentwurf für Marsbwohnerin in Aélita, 1924, Aquarell und Gouache auf Papier, 53 x 36 cm, Sammlung Nina und Nikita Lobanov-Rostovsky, Spende des Gemeinnützigen Fonds „Konstantinovsky“, 2013; © St. Petersburg State Museum of Theatre and Music

Höchst dynamisch ist auch das künstlerische Werk der ukrainischen Künstlerin Alexandra Exter (1882-1949), die schon 1909 ein Atelier in Paris hatte, wo sie mit solchen das Jahrhundert prägenden Künstlern und Schriftstellern wie Guillaume Apollinaire, Max Jacob, Georges Braque, Pablo Picasso sowie mit Sonia und Robert Delaunay verkehrte. In ihrem malerischen Werk verbinden sich kubistische, futuristische und suprematistische Elemente. Daneben wurde Exter vor allem eine einflussreiche Bühnenbildnerin, die ab 1918 in Kiew und 1921 bis 1922 an der Kunstschule WCHUTEMAS in Moskau unterrichtete, bevor sie 1924 endgültig nach Frankreich emigrierte. Faszinierend ist der in der Schirn anzuschauende russische Science-Fiction Film Aelita, der auf dem Mars spielt. Exter hatte für den Stummfilm rasante ausdrucksstarke Kostüme entworfen, Lichtregie und Architektur des Films erinnern an Fritz Langs legendären Film Metropolis. Der Mars bleibt der Projektionsort für Sehnsüchte wie für Probleme und Zeitphänomene der 1920er Jahre.

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Marcelle Cahn, Frau und Segel, ca. 1926-27, Öl auf Leinwand, 66 x 50 cm, Musée d’Art Moderne et Contemporain de Strasbourg (MAMCS), © Foto Musées de Strasbourg, A. Plisson

Die elsässische Künstlerin Marcelle Cahn (1895-1981), eine Schülerin Fernand Légers, ist dem großem Publikum sicher weniger bekannt. Das Credo „der moderne Mensch lebt mehr und mehr in einer überwiegend geometrischen Ordnung“ hat ihre Arbeit sicherlich besonders beeinflusst. Dabei bricht Cahn das Rationale immer wieder auf: durch Linien, die im Leeren enden, Flächen, die plötzlich aufhören, Schatten, die stärker hervortreten als die Figur selbst. Anders als ihr Lehrer Léger malte Marcelle Cahn jedoch stärker das Melancholische der Maschinen und der Städte, ähnlich wie Konrad Klapheck. Sie gehört zu dem kleinen Kreis der geometrischen Avantgarde-Künstler (Cercle et Carré) der 1920er Jahre in Paris, wo sie sich insbesondere mit Mondrian und Vantongerloo auseinandersetzt.

1952 vollzieht sie einen radikalen Neuanfang, sie entdeckt die konstruktive geometrische Komposition wieder und findet zu ihrem eigenen Stil, einer Malerei auf weißem Grund, der von schwarzen Geraden durchzogen ist, welche die Bildfläche strukturieren, und fügt wenige elementare, farbige Formen, gelegentlich auch Kugeln oder flache Reliefplättchen hinzu. Ihre Collagen gehören zweifellos zu den eigenständigsten Zeugnissen ihrer Sensibilität.

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Alexandra Exter in ihrem Pariser Atelier, 1920er Jahre, Fotograf unbekannt

Die russische Avantgarde-Künstlerin Natalja Gontscharowa (1881-1962) hinterließ ein umfangreiches und vielschichtiges Werk. In frühen Jahren malte sie, inspiriert von Folklore und Volkskunst ihres Landes, farbenfrohe, ornamentale und an die Ikonenmalerei angelehnte religiöse Bilder. Sie war Mitbegründerin und Teilnehmerin neuer Ausstellungsgruppierungen wie Karo-Bube (1910) oder Eselsschwanz (1911) und wurde Vorreiterin der russischen Avantgarde. Durch ihre Tätigkeit für die von Sergej Djagilev geleiteten Ballets Russes wurde die Künstlerin in den 1910er Jahren im Westen außerdem zum Inbegriff einer modernen Bühnenbildnerin. Während ihrer Moskauer Zeit begann sie kubistisch zu arbeiten und gab der russischen Avantgarde einen wichtigen Impuls zur Verbindung von Tradition und Moderne. 1914 hatte Walden eine Doppelausstellung im STURM mit Gontscharowa und ihrem Lebensgefährten Michail Larionow geplant. Wegen des Ersten Weltkriegs fand diese jedoch erst später statt. In den 1920er Jahren legte Walden einen neuen Fokus auf Gontscharowas langjährige Bühnenarbeit. 1927 entwarf sie zur Begeisterung des Pariser Publikums das märchenhaft-expressive Bühnenbild zum Ballett Le Coq d’Or. Der STURM wies dem Œuvre der eigenwilligen Künstlerin, die im eigenen Land bis heute keine angemessene Beachtung findet, den ihm zustehenden Rang zu.

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Jacoba van Heemskerck in ihrem Atelier in Den Haag, ca. 1915, Privatbesitz

Die niederländische Künstlerin Jacoba van Heemskerck (1876-1923) hatte als eine der ersten Frauen die Academie voor Beeldende Kunsten in Den Haag besucht. Nach ihrem Studium stellte sie mit den Avantgardekünstlern um Piet Mondrian aus. Das Galeristen-Ehepaar Walden lud die niederländische Künstlerin 1913 ein, sich am Ersten Deutschen Herbstsalon zu beteiligen. Damit gehörte sie bald zum engsten Kreis der STURM-Künstler. Den für sie so charakteristischen Stil, der sich durch eine eigenwillige, sehr freie Farb- und Formwahl auszeichnet, entwickelte sie erst im Verlauf ihrer Zusammenarbeit mit Nell und Herwarth Walden. Sie gestaltete mehrere Titelbilder der STURM-Zeitschrift. Und ihre Holzschnitte wurden öfter in der Zeitschrift abgebildet als alle anderen. Bildnerisch löste sie das konkrete Motiv der Segelschiffe in kubische Formen auf und reihte diese stakkatoartig aneinander. Nach ihrem frühen Tod widmete Walden ihr 1924 eine Gedächtnisausstellung. Und das, obwohl sie sich schon Anfang der 1920er Jahre zurückgezogen hatte.

Die STURM-Frauen haben mit ihren avantgardistischen Ideen und Visionen und deren Ausprägung in den unterschiedlichsten Medien maßgeblich zur Entwicklung der Moderne beigetragen. Manche von ihnen sind uns heute noch gut bekannt, andere zu Unrecht vergessen – alle haben sie dafür gesorgt, dass sich so neue künstlerische Stile wie Kubismus, Expressionismus oder auch Konstruktivismus durchsetzen konnten. Dass diese besondere Ausstellung zur Kunst der Moderne, zur Rolle der Frau in der Kunst, zur Bedeutung einer strategisch agierenden Galerie im Berlin der 1920er Jahre erst im Jahre 2015 stattfindet, ist im Grunde eine Schande. Aber es ist auch nie zu spät, Unbekanntes zu entdecken, wenn es eine so durchgängige Qualität wie in dieser Ausstellung hat. Dass man in ihr sowohl berühmten und bekannten Namen und Werken begegnen als auch zugleich so viele überraschende Neuentdeckungen machen kann, ist ein zusätzlicher Anreiz, die Schau wahrzunehmen.

STURM-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910-1932, Schirn Kunsthalle Frankfurt, bis 7. Februar 2016

→ STURM-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910-1932 (Teil 1)

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