home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Kultur – Profiteur der Zivilisation

Ein Essay

Von Gunnar Schanno

In einer weiteren Betrachtung zu Kultur und Zivilisation sei gesagt, dass sie keinen Gegensatz zueinander bilden. Beide Begriffe lassen sich wie Aggregatzustände beschreiben. Alles, was Zivilisation ist, kann sich in Kultur wandeln. Die Stoßrichtung geht immer von der Zivilisation aus, weil der Mensch – wie einst der Jäger und Sammler der Urzeit – zunächst das utilitär Lebenserhaltende sicherstellen muss. Als physisch diversifiziertest ausgestatteter Produzent des Zivilsatorischen, der er geworden ist, und in immerzu getriebener Dynamik hat er planerisch erreicht, dass er das aus der Umwelt heraus Produzierte sich für die Gegenwart und in Vorratshaltung für die Zukunft sicherzustellen vermag.

Konkret gewinnt der zivilisatorische Prozess die Dimension des Kulturellen hinzu, sobald das funktional und überlebenssichernd gerichtete Zivilisatorische nicht mehr die Oberhand hat, sobald das eigene Ich und dessen Tun in nachsinnende Sicht gerät, sobald der Wunsch nach individueller Zuordnung auch des Alltäglichen erwacht, sobald das Betrachten, das Reflektieren, das künstlerische, das mythische Bannen in Gestalt und Wort, sobald die Selbsterhöhung in zeremonialen Akten und Ritualen stattfindet. Ausdruck dafür ist, dass der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit immer Zivilisations- und Kulturmensch zugleich ist, produzierend und schöpferisch, nutzend und genießend.

Was einmal Kultur war, kann ernst genommen nicht wieder in den Status des Zivilisatorischen zurückkehren. Kultur ist grundsätzlich das, was bleibt. Es bleibt Kultur, selbst wenn ihre Gegenstände verschwinden, in Kriegen zerstört oder in die Geschichte zurückgesunken sind. Allein die Rückschau, die archäologische Suche nach Spuren erhöht auch vergangenes menschliches Leben zu dem, was uns gesamtmenschliche Gemeinschaft bedeutet und was wir dann mit dem Pathosbegriff Menschheit belegen. Es liegt darin immer auch das Verklärende, so wie in privater Sicht und Rückschau des eigenen Lebens das Familiale, das beruflich gebundene und individuell freie Wirken, das letztlich Menschliche der eigenen Existenz in der Schau der eigenen Vergangenheit als das zu bewahrend Unveränderliche erscheint. Allein dadurch kann es auch in erhöhende, transzendierende, letztlich kulturelle Dimension geraten.

Von der Kultur ist niemand und letztlich nichts ausgeschlossen. Kultur ist ganzheitlich, weil sie die Teile nicht trennt, weil sie nicht Analyse, sondern in all ihren Erscheinungen ihre je eigenen Synthesen bildet. Selbst eine einzelne kulturelle Ausprägung, wie sie etwa ein Gemälde darstellt oder ein tänzerischer Vorgang, ist immer mit dem Ganzheitlichen des Menschen in Beziehung gesetzt. Auch der Dichter wird sein Wort als Ausdruck seiner Ganzheitlichkeit wahrnehmen wollen. Die Kausalitäten, die Ursache-Wirkungs-Mechanismen bleiben im Kontext des Kulturellen unsichtbar. Die physiologischen Gesetze, wenn sie empirisch, experimentell erkundet werden oder pragmatische Anwendung finden, sind Thema des zivilisatorischen Prozesses. Vielleicht unterscheidet dies den Arzt, von dem wir den zivilisatorisch erreichten Standard zur Gesundung erwarten, vom Schamanen, von dem der Gebannte mythische Heilung erhofft. Auch in ihren beiden hauptsächlichsten, für den Menschen ergreifendsten Ausprägungsformen – der Kunst und der Religion – bewegt sich Kultur im Unbeweisbaren, im Subjektiven, im Erlebnishaften, im Meinungs-, Glaubens-, Sehnsuchts- und Hoffnungsvollen, im Übersinnlichen, letztlich im Metaphysischen.

Leonardo_da_Vinci_helicopter_and_lifting_wing

Leonardo da Vinci, technische Modellzeichnungen: Helikopter, Hubkraft eines Flügels; British Museum, London; Bildnachweis: wikimedia commons

Kultur als Profiteur der Zivilisation

Die Anerkennung und Respektierung des Menschen als Kulturmensch konnte sich auch im rechtlichen Raum erst mit der Etablierung zivilisatorischer Standards durchsetzen. Gesetzliches Regelwerk hat kulturelle Vielfalt in demokratisch verfassten Gesellschaften bis in politische oder religiöse Satire hinein in einen zivilisatorisch schützenden Raum gestellt. Gab es nicht und ist nicht bis heute die Zeit, da Kultur in ambivalentester Weise zum einen nur in tiefstgründiger Freiheit denkbar ist und zum andern aber Vernichtungshaltung hervorrufen kann? Und ist da nicht etwa der Bilderstreit von einst beim Satirestreit von Heute angelangt? Und so ist es allein die zivilisatorisch rational erreichte Erkenntnishöhe, von der herab der Freiheitsraum der Kultur schützend auch bis ins Reich der Satire bewahrt werden kann.

Schließlich ist das Zivilisatorische immer emotionslos relativierend, die Kultur immer wahrheitsergriffen absolut. Es muss deutlich sein, dass Zivilisation graduell verstanden werden muss. Es gibt keinen festgesetzten Grad des
gesellschaftlichen Lebens, ab dem plötzlich der Zustand der Zivilisation eintritt. Auch Urvölker, ethnisch seit Urzeiten fast unveränderte Stammesgesellschaften, sind also nicht vom grundsätzlich zivilisatorischen Aspekt ausgenommen. Er schließt alles ein, was zum Bereich technischer Routine von lebens- und überlebenssichernden Nützlichkeitsregeln für die Daseinsbewältigung gehört. Zivilisation ist eine grundlegende Merkmalsausprägung in der Gesamtheit von Mensch und Gesellschaft, von Pfeil- und Bogen bis zur elektronischen Gerätschaft.

Es gehört dazu, dass zivilisatorische Vorgänge von einem jeweils bestimmten kulturellen Vorverständnis geleitet werden. Aus diesem kulturellen Verständnis erklärt sich deshalb auch die Werthöhe, die der Wissenschaft, der Forschung oder der Ausbildung als zivilisatorisch bestimmte Dimensionen auch von Seiten der Gesellschaft und der Politik gegeben wird. Weil nun auch noch das Panphänomen Kultur im gesellschaftlichen Raum verortet sein soll, verbindet sich deshalb auch von staatlich-gesellschaftlicher Seite her problemlos das politisch Funktionale mit dem Begrifflichen des Kulturellen. Die ultimative Steigerung findet dann etwa in der personifizierten kultur-zivilisatorischen Synthese eines Kulturministers statt.

Leonardo_da_Vinci_-_presumed_self-portrait_-_WGA12798

Leonardo da Vinci, sog. Selbstporträt (vermutet), um 1512, Rötel auf Papier; Biblioteca Reale, Turin; Bildnachweis: wikimedia commons

Kultur hinterfragt nicht im Sinne, dass sie sich selbst in Frage stellt. Deshalb ist es etwa dem Künstler oft so schwer, über sein Werk zu sprechen (wenn auch mancher Künstler sehr wohl sein eigener Interpret sein kann). Beginnt er aber grundsätzlich damit, seine Kunst – ob im Bereich der bildenden, der sprachlichen oder darstellenden – zu analysieren und zu kommentieren, so beginnt er meist, sich Wort für Wort von ihr zu entfernen, sich von seinem eigenen Werk zu entfremden. Auf seinen eigenen künstlerischen Ausdruck bezogen tritt der Künstler in einen primär nicht für ihn bestimmten Raum des Interpretierens, des Analysierens, wenn nicht der Sinnauflösung. Immer aber setzt er sich einer zerlegenden, röntgenhaften Durchdringung seines doch ganzheitlich empfundenen und geschaffenen Werks aus.

Wie auch könnte er rational und argumentativ möglicherweise haarsträubende und dennoch vielleicht geniale künstlerische Ausdrucksformen rechtfertigen wollen, sinnhaft erklären? Wollte der Künstler sein Werk erklären, zivilisatorisch rechtfertigen, so träte er aus dem freien, fast unendlichen Raum des Empfindens und Assoziierens. Er verfinge sich in einem sozusagen zivilisatorisch geschaffenen Netzwerk rationalinterpretatorischer Regeln und Kategorien. Letztlich müsste er als Künstler verstummen. So wirkt gerade der Künstler, der so originär im Raum der Kultur wirkt, in seinem künstlerischen Schaffen im Unschuldsraum. Die auch aus zivilisatorisch gewonnener Erkenntnishöhe grundgesetzlich zugesprochene Freiheit der Kunst und Schutz vor Zensur und Verbot mag aus dieser Quelle einen ihrer Ursprünge haben.

Vom gleichen Autor:
→ Eine Zwischenbetrachtung über die Natur
→ Kultur und Zivilisation

Comments are closed.