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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Der Schönste Preis“: 40 Jahre Stadtschreiber von Bergen

Text und Fotos: Renate Feyerbacher

Nur noch wenige Tage, bis zum 15. März 2014, werden in der Zentralbibliothek der Stadtbücherei Frankfurt Bücher, Bilder und Dokumente aus dem Stadtschreiberarchiv ausgestellt. Darüber hinaus gibt es das ganze Jahr Veranstaltungen – auch mit der derzeitigen Stadtschreiberin.

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Angelika Klüssendorf am 28. August 2013

Angelika Klüssendorf ist der 40. Stadtschreiber von Bergen. So der offizielle Name des bedeutenden deutschen Literaturpreises. Am 30. August 2013 wurde sie beim Stadtschreiberfest eingeführt.

Kein Geringerer als Jean Ziegler, der weltbekannte Globalisierungskritiker, emeritierter Professor für Soziologie in Genf mit Gastprofessur an der Pariser Sorbonne, hatte die Festrede gehalten, die allerdings nicht auf Klüssendorfs Werk einging. Er sprach vielmehr über die katastrophale soziale und bildungspolitische Situation in der Welt und stellte sein Buch „Wir lassen sie verhungern“ vor. Zweifellos ein notwendiges Buch, und es war wichtig, die Informationen einem breiten Publikum im Festzelt auf dem Berger Marktplatz mitzuteilen. Als ehemaliger Sonderberichterstatter der UN für das Recht auf Nahrung sowie Mitglied der UN-Task-Force für humanitäre Hilfe im Irak kennt er wie kaum ein anderer die Ernährungssituation auf der Welt. Sein Einsatz hört nicht auf.

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Jean Ziegler beim Signieren des Buches

Als Angelika Klüssendorf am 28. August in der Nikolauskapelle in Bergen-Enkheim, heute ein Stadtteil von Frankfurt, mit Journalisten sprach, gab sie noch nicht preis, an welchem neuen Buch sie arbeitet. Dackel Hugo, der währenddessen zwischen den Beinen der Leute herum wuselte, bekam fast mehr Aufmerksamkeit als die Autorin.

Die Schriftstellerin lebt nahe Beeskow, etwa 80 Kilometer von Berlin entfernt, und seit August 2013 immer wieder in dem kleinen Stadtschreiberhaus von Bergen-Enkheim. Vor zweiundzwanzig Jahren nahm sie am renommierten Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil.

Es scheint, dass sie dort die Ruhe fand, um ihr Buch fertig zu schreiben, das Anfang des Jahres erschien. „April“ ist der Titel des neuen Romans, eine Fortsetzung von „Das Mädchen“, veröffentlicht 2011. Das Buch stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2012.

Im ersten Buch ist das 12-jährige Mädchen namenlos. Es und der jüngere Bruder sind verwahrlost. Die Mutter ist gleichgültig, kümmert sich nicht um sie, ist gewalttätig. Der Vater schlägt die Mutter und diese gibt die Schläge weiter. Alkohol, Depressionen der Eltern gehören zum Alltag. Das Mädchen flieht immer wieder aus dem Elternhaus, stiehlt, wird aufgegriffen, in ein Kinderheim gebracht, wo sie den Schulabschluss schafft. Sie beginnt eine Lehre als Rinderzüchterin und landet in einer Melkanlage.

Das Mädchen hat sich im Nachfolgeroman den Namen April gegeben nach einem Song von Deep Purple. April geht wie die Autorin in den Westen. Sowohl „Das Mädchen“ als auch „April“ sind Fiktionen mit biografischen Details. Knapp und nüchtern erzählt Angelika Klüssendorf die Geschichten von Pubertät und Erwachsenwerden.

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Angelika Klüssendorf bei der Schlüsselübergabe im Festzelt am 30. August 2013, links der vorherige Stadtschreiber Marcel Beyer, in der Mitte Ortsvorsteherin Renate Müller-Friese

Geboren wurde Angelika Klüssendorf 1958 während eines Urlaubs der Eltern in Ahrensburg im Südosten Schleswig-Holsteins. Bis zu ihrer Ausreise 1985 lebte sie in Leipzig. Sie wuchs in einem Heim auf, machte eine Ausbildung zur Zootechnikerin / Mechanisatorin und arbeitete in einer Melkanlage. Sie verliess die DDR, ihre Heimat wie sie sagt, um der Enge zu entfliehen, fürchtete sich jedoch vor der Kälte im Westen. Zweimal lebte sie in Frankfurt am Main. Diese Zeit beschreibt sie in einem Interview als Horror. Und nun ist sie wiederum in Frankfurt und scheint nicht unglücklich zu sein.

Zurück zu den Anfängen dieses Literaturpreises. Wer hatte die Idee?

Es war der Berger Bürger Franz Joseph Schneider, Schriftsteller und Werbetexter. Er war Gründungsmitglied der Schriftstellervereinigung „Gruppe 47“. Er schlug vor, preiswürdige Autoren und Autorinnen ein Jahr lang unengeltlich in Bergen-Enkheim, das damals noch eine selbständige Stadt war und nicht zu Frankfurt gehörte, wohnen zu lassen. Außerdem sollte er oder sie einen monatlichen Ehrensold erhalten. Heute wird ein Preisgeld von 20.000 Euro gegeben. Schneider hoffte auch auf lebhafte Kommunikation zwischen Autor und Bürgern. Das ist der Fall. Vor allem sollten die Schriftsteller frei von Verpflichtungen ihrem Schreiben nachgehen können. Auch das ist der Fall. Viele Literaturpreise in der Bundesrepublik haben die Idee aus Bergen-Enkheim übernommen.

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Adrienne Schneider

Tochter Adrienne Schneider, ehemals Mitarbeiterin beim Suhrkamp Verlag, widmet sich weiterhin voll der Literatur und gehört seit dem Tod ihres Vaters zu den Bürgerjuroren der Jury.

Der damalige erste Stadtrat von Bergen-Enkheim, Alfred Schubert, boxte das Projekt, die Idee Schneiders, trotz erheblicher Widerstände durchs Stadtparlament. Am 30. August 1974 wurde Wolfgang Koeppen als erster Stadtschreiber eingeführt. Sein Laudator war der im Herbst 2013 verstorbene Marcel Reich-Ranicki.

Die Chronologie der Stadtschreiber und ihrer Festredner ist eine Liste literarischer Großmeister. Wolfgang Koeppen und Karl Krolow hatten bereits den Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt erhalten, den höchsten deutschen Literaturpreis. Peter Rühmkorf, Josef Winkler, Wilhelm Genazino, Arnold Stadler, Reinhard Jirgl und Friedrich Christian Delius erhielten ihn, nachdem sie Stadtschreiber waren.

Und Herta Müller, Stadtschreiberin 1995/1996, wurde sogar 2009 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Ihre Werke beschäftigen sich mit der Diktatur in Rumänien.

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Herta Müller – Plakat in der Ausstellung

Diese Fakten belegen das gute Gespür, das die Jury in Bergen-Enkheim bei ihrer Wahl des Stadtschreibers beziehungsweise der Stadtschreiberin hat.

Zu den ersten Preisträgern zählte Peter Härtling (1977/1978), den Literaturfans mehrmals im Jahr mit seiner Sendung „Literatur im Kreuzverhör“ im Programm „hr2 Kultur“ hören können. Sein Laudator war Alfred Grosser, der deutsch-französische Soziologe, Publizist und Politikwissenschaftler.

Peter Härtling hielt am 31. Januar die humorvolle Festrede anlässlich der Feier zum Jubiläum „40 Jahre Stadtschreiber“ im Frankfurter Römer.

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Peter Härtling am 31. Januar 2014

Auf dieser Feier war auch der 1943 geborene Wilhelm Genazino, Stadtschreiber 1996/1997, der den Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung acht Jahre später erhielt. Er lebt in Frankfurt. In seinem aktuellen Werk „Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands“(2013) flaniert Tarzan alias Genazino durch Frankfurt und hinterfragt es kritisch.

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Wilhelm Genazino am 31. Januar 2014
Reinhard Jirgl (eine Aufnahme aus 2007)

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Ex-Stadtschreiber Reinhard Jirgl, auch er Büchner-Preisträger, wohnte, aus Berlin kommend, dem Festakt in Frankfurt ebenfalls bei. Lang ist die Liste seiner literarischen Auszeichnungen. Sein letzter Roman „Nichts von euch auf Erden“, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2013 stand, ist eine Science-Fiction-Fantasie. Er wurde jedoch kritisch beurteilt. Hinter dieser Apokalypse stecke viel Kraftmeierei, hiess es in der ZEIT.

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Eva Demski

Die Frankfurterin Eva Demski, die 1981 den Sonderpreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt bekam, wurde sieben Jahre später Stadtschreiberin. Auch sie war anwesend bei der Feierstunde im Römer. „Goldkind“ – autobiographisch geprägt – , „Karneval“ und „Scheintod“ sind die Titel der ersten Romane, die sich mit zeit- und gesellschaftskrtischen Themen auseinandersetzen. Ihre Begeisterung für Katzen, für den Garten, für Kulinarik hat sie in ihren Büchern festgehalten.

Apropos Frauen: Nur neun erhielten bisher den Preis: neben den bereits erwähnten die Schriftstellerinnen Helga M. Novak (1979/1980), Friederike Roth (1984/1985), Ulla Hahn (1987/1988), Katja Lange-Müller (1989/1990), Emine Sevgi Özdamar (2003/2004) und Katharina Hacker (2005/2006). Dabei gibt es doch in unserem Land grossartige Schriftstellerinnen, auch mit sogenanntem Migrationshintergrund.

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Thomas Rosenlöcher

Thomas Rosenlöcher, in Dresden geboren und dort in der Nähe lebend, war der 37. Stadtschreiber. Der Lyriker, Essayist und Erzähler ist ein origineller Fabulierer. Nach seiner Antrittsrede am 3. September 2010 im Festzelt gab es frenetischen Applaus. Er hatte sie aufgebaut auf die Frage eines politisch-engagierten Mannes, die dieser an ihn nach der Wiedervereinigung gestellt hatte: ob er noch länger in Deutschland bleibe. Er habe geantwortet, zwei, drei Tage. Am Schluss seiner Rede, in der er über Heimat, Heimweh, Heimkommen, Verständigung nachdachte, dankte er, dass er jetzt die Möglichkeit habe, einmal länger als drei Tage in Deutschland zu bleiben.

Ebenfalls in Frankfurt zugegen war der Berliner Schriftsteller Thomas Lehr, Stadtschreiber 2011/2012. Sein RomanSeptember. Fata Morgana“ – in ihm erzählt er die Geschichte zweier Väter und zweier Töchter in den USA und im Irak – war Gesprächsstoff im Jahr 2010. Er erzählt die Geschichten von Sabrina, die am 11. September 2001 in New York stirbt, und von Muna, die bei einem Bombenattentat in Bagdad 2004 umkommt..

Ein Thema, das interessiert, aber dadurch, dass die Sätze ohne Punkt und Komma geschrieben sind, schwer lesbar.

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Thomas Lehr im Garten des Stadtschreiberhauses August 2011

Der Schweizer Schriftsteller Peter Weber, Stadtschreiber 2004/2005, gehörte als Fachjuror zur aktuellen Jury neben Peter Härtling, Wolfram Schütte, Frankfurter Journalist, Autor, Filmkritiker, und Marcel Beyer, dem letzen Stadtschreiber. Weber begeisterte bei der Eröffnung in der Frankfurter Zentralbibliothek auch durch sein Spiel auf der Maultrommel. Der Wettermacher“ machte ihn 1993 bekannt.

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Peter Weber am 31. Januar 2014

Ein Name darf nicht fehlen. Es ist der von Monika Steinkopf. Die Buchhändlerin, die 1978 die wunderschöne Berger Bücherstube eröffnete, pflegt engen Kontakt zu den Schriftstellern und Dichtern. Am Ende der Stadtschreiber-Zeit bittet sie jeden um einen literarischen Text, der handgesetzt, gedruckt und signiert wird – „Poetische Blätter“ genannt, eine bibliophile Kostbarkeit. Sie hatte die Idee zum Aufbau eines Stadtschreiber-Archivs.

Monika Steinkopf

Monika Steinkopf am 3. September 2010

Für das Wohl der Poeten verantwortlich ist die Kulturgesellschaft Bergen-Enkheim, geführt von Cornelia Grebe und Joachim Netz.

Ausstellung „Der schönste Preis: 40 Jahre Stadtschreiber in Bergen-Enkheim“, Zentralbibliothek der Stadtbücherei Frankfurt am Main, Hasengasse 4, bis 15. März 2014

Besondere Termine: am 13. März 2014 zur Finissage in der Zentralbibliothek kommen die Stadtschreiber und Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino und Arnold Stadler. Am 2. April werden die Stadtschreiber Ingomar von Kieseritzky (2006/2007) lesen, am 4. Juni Ludwig Fels (1985/1986) und am 6. August 2014 Uwe Timm (2002/2003).

– Weitere Artikel von Renate Feyerbacher –

 

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