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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Hélio Oiticica. Das grosse Labyrinth“ im Museum für Moderne Kunst

Brasilien war bekanntlich der Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, Brasilien dominierte vor allem um jene Wochen im Oktober herum weite Teile nicht nur des Kulturgeschehens in der Stadt. Manchmal schien es, Hand aufs Herz, bereits ein bisschen zu viel Brasilien zu sein. Nun, die Brasilianer sind inzwischen wieder abgezogen (umgekehrt bereiten die Frankfurter Fussballfans die Invasion des Landes zur Weltmeisterschaft vor), geblieben sind noch zwei sehenswerte Ausstellungen: „Hélio Oiticica. Das grosse Labyrinth“ im Frankfurter MMK und „BRASILIANA. Installationen von 1960 bis heute“ in der SCHIRN Kunsthalle.

Beginnen wir heuer mit einem Blick auf erstere im MMK. Sie hatte bereits eine Vorläufer-Ausstellung: „Hélio Oiticica: Partizipative Kunst im Frankfurter Palmengarten“. Es handelte sich um eine erste Kooperation zwischen Museum für Moderne Kunst und Palmengarten – unter Mitwirkung von Goethe-Universität und Städelschule. Sie schloss am 27. Oktober.

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Immer noch in der Eingangshalle und wie manche Objekte von Hélio Oiticica für die Besucher zum Be-grapschen und Be-sitzen: Franz West’s Skulptur „Untitled“ (2012 posthum, Installationsansicht, Aluminium lackiert, Franz West Privatstiftung, Wien) …

… und zum Be-gehen: Hélio Oiticica, Penetrável PN1, 1960, Installationsansicht

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Die Bedeutung Hélio Oiticicas (er lebte von 1937 bis 1980) als Vorreiter der partizipativen Kunst, als Konstrukteur von Materialität, Farbe, Zeit, Raum und Situationen hatten wir bereits anlässlich der Palmengarten-Ausstellung skizziert. Das MMK nun zeigt in einer Überblicksschau die bislang umfassendste Retrospektive der Nachkriegszeit auf das Werk des brasilianischen Künstlers mit Arbeiten aus allen Schaffensbereichen.

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Rhodislândia, 1971/2013, Installationsansichten, Nylongewebe, Kieselsteine, getrocknete Blätter

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In der raumgreifenden Installation „Rhodislândia“ durchschreitet der Betrachter – durch geschlitzte Vorhänge aus Nylongewebe geteilte – Räume und bewegt sich auf mit Kieselsteinen belegten Böden hin zu einem Stuhl im Thonet-Stil oder zu einem Klavier nebst Klavierhocker. Darf er Platz nehmen, gar Klavier spielen? Wir wissen es nicht, möchten es gleichwohl annehmen.

„Während seiner gesamten künstlerischen Laufbahn war Oiticica von einem ständigen Drang nach Erneuerung sowie Experiment erfüllt und war mit seinen Ansätzen der Zeit wie kaum ein anderer Künstler voraus: Die Begriffe ‚Partizipation‘, ‚Environment‘ und ‚Proposition‘, die in Europa und Nordamerika den künstlerischen Diskurs erst Jahre später bestimmten, griff er bereits zu einem frühen Zeitpunkt auf, was seinem Werk bis heute zentrale Bedeutung verleiht“, so MMK-Direktorin Susanne Gaensheimer. Und Peter Gorschlüter, stellvertretender Direktor und Kurator der Ausstellung, schreibt: „Die aktive Einbindung und Beteiligung des Betrachters waren ein wesentliches Merkmal in seiner künstlerischen Arbeit. Zur gleichen Zeit wie Joseph Beuys in Deutschland strebte er danach, die traditionelle Vorstellung von einem Kunstwerk aufzubrechen und die Kunst für die Gesellschaft sowie die Gesellschaft für die Kunst zu öffnen“. Co-Kuratoren sind César Oiticica Filho, der Neffe des Künstlers, und Fernando Cochiarale.

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Penetrável PN 28 „Nas Quebradas“, 1979/2012, Installationsansicht, Holz, Steine, Metall, Nylongewebe, Plastik, Jutematerial

„In den 1950er Jahren war es ein zentrales Anliegen von Oiticica, das Zusammenspiel von Farbe und Form zu erforschen. Getrieben von der Überzeugung, dass sich Farbe und Form von der Fläche befreien müssten, entwickelte der aus der Malerei kommende Künstler in Rio de Janeiro Ideen zu einer neo-konkreten Kunst. Diese sollte sich von den schematischen und in Oiticicas Augen festgefahrenen Formen der Abstraktion abwenden. Die Ausstellung im MMK zeichnet nach, wie Oiticica die Malerei im Laufe seines Schaffens sukzessive in den dreidimensionalen Raum überführte … Fast zeitgleich entstand sein erstes ‚Penetrável PN 1‘ (vom portugiesischen ‚penetrar‘ für ‚durchdringen‘), ein begehbarer Farb-Raum, in dem der Betrachter mittels Schiebetüren verschiedene Farb-Raum-Konstellationen bilden kann“ (Text MMK).

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Tropicália, 1967/2013, Installationsansichten; „Bitte die Vögel nicht füttern oder anfassen.“

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„Tropicália“, eine begehbare Installation aus Sand, Pflanzen, lebenden Papageien und Behausungen, zählt zu den bekanntesten Werken des Künstlers, inspiriert von den Favelas in Rio de Janeiro. Oiticica „propagierte damit ein offenes Verständnis brasilianischer Einflüsse in der Kultur und verschmolz diese mit seinen grundsätzlichen Überlegungen zur Entwicklung der Kunst. Nach dieser Rauminstallation wurde in Brasilien eine der wichtigsten kulturellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts benannt, die neben der bildenden Kunst vor allem in der Musik ihren Niederschlag fand“ (Text MMK).

Ähnlich wie „Tropicália“ die Gross-Installation „Éden“, eine sandige, an eine Bevölkerung durch Nomadenstämme assoziierende künstliche Landschaft: Man darf sie nur ohne Schuhe betreten – wer aber möchte schon mit versandeten Füssen und Socken im Schuhwerk den Rest des Tages verbringen? Wir jedenfalls verzichteten darauf.

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Parangolés, 1965-1979, Installationsansicht

„Der Betrachter ‚trägt‘ den Umhang aus Schichten bunter Stoffe, die sichtbar werden, wenn sich der Betrachter bewegt, wenn er läuft oder tanzt. Das Werk erfordert dabei direkte körperliche Partizipation; über das Bekleiden des Körpers hinaus veranlasst es diesen letztlich zur Bewegung, zum Tanzen. Der ‚Akt des Einkleidens‘ selbst, das ‚Tragen‘ des Werks, impliziert bereits eine expressiv-körperliche Verwandlung des Betrachters, welche die ursprüngliche Eigenschaft des Tanzes, seine grundlegende Bedingung ist“ (Hélio Oiticica, Wandtext).

Auch auf dieses potentielle Selbstexperiment haben wir verzichtet: uns in allerlei bunte Gewänder zu kleiden, in ihnen das Museum zu durchstreifen und uns zu einem Kunstwerk der eigenen Art zu entwickeln. Die lebhaft-farbigen Textilien – Parangolés (1964) – waren für das Publikum zum Überziehen und zum Agieren gedacht. „Zu dieser Zeit interessierte sich Oiticica zunehmend für die organischen Strukturen der brasilianischen Favelas, die Strassenkultur ihrer Bewohner, den Samba sowie das Aussenseiter-Dasein, was sein Werk grundlegend beeinflusste und ihn zu einem umfassenderen Verständnis der Einheit von Kunst und Leben führte“ (MMK).

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B 34 Bólide bacia 1, 1965/1966, Plastik, Erde, Gummihandschuhe

Die Gummihandschuhe darf man anlegen, die feinkörnige Erde fühlen, sie durch die Finger rinnen lassen. Das mit Muscheln gefüllte Glas lässt Sinnen und Gefühlen freien Lauf.

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B 31 Bólide vidro 14 „Estar“, 1965/1966, Glas, Muscheln

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NC 1 Pequeno Núcleo no. 1, 1960, Installationsansicht; im Hintergrund: Metaesquemas, 1957/1958, Gouache auf Karton

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„Ich glaube, dass Farbe die Stufe des Erhabenen bereits erreicht hat, oder zumindest an ihre Schwelle gelangt ist, in mir; allerdings steht die nötige Entwicklung, um sie zum Ausdruck zu bringen, noch am Anfang. Die Erfahrungen mit den Nucléos (Kerne), von denen ich bereits einige kleine Modelle angefertigt habe, haben mir alle Türen zur Befreiung der Farbe und zu ihrer perfekten strukturellen Einbeziehung in Raum und Zeit geöffnet“ (Hélio Oiticica, Wandtext).

Oiticicas künstlerische Produktion „verlagerte sich neben Happenings zunehmend auf Pläne, Modelle und Instruktionen für zukünftig zu realisierende Werke. Oiticica konzipierte diese als offene Projekte, deren Umsetzung nicht an ihn selbst gebunden war. Damit brach er einmal mehr mit gängigen Konventionen des Kunstbetriebs und warf Fragen nach dem Begriff der Autorschaft und Originalität auf, die bis heute im Kontext der Gegenwartskunst diskutiert werden“ (MMK).

„Hélio Oiticica. Das grosse Labyrinth“, Museum für Moderne Kunst MMK, bis 2. Februar 2014

Abgebildete Werke: Collection César and Claudio Oiticica; Fotos: FeuilletonFrankfurt

Hélio Oiticica: Partizipative Kunst im Frankfurter Palmengarten

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