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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Biennale Venedig 2011: Pressekonferenz in absentia Christoph Schlingensief

Von Erhard Metz

Er, der Meister, auf den alle mit Spannung gewartet hatten, konnte krankheitsbedingt nicht zur Auftakt-Pressekonferenz am 29. Juni 2010 im Frankfurter Museum für Moderne Kunst erscheinen:  Christoph Schlingensief , den MMK-Direktorin und Biennale-Kommissarin Susanne Gaensheimer mit der Gestaltung des Beitrags der Bundesrepublik Deutschland im Deutschen Pavillon zur Biennale Venedig 2011 betraut hat.

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Christoph Schlingensief am 5. Oktober 2009 im Schauspiel Frankfurt; Fotos: © Renate Feyerbacher

So bestritt denn Susanne Gaensheimer mit Elke aus dem Moore, der Abteilungsleiterin Kunst des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) in Stuttgart, und Markus Müller vom „Bureau Mueller“, Berlin, die Veranstaltung.

Susanne Gaensheimer zu ihrer Entscheidung für die Berufung von Christoph Schlingensief:

„Ausgangspunkt meiner Einladung an Christoph Schlingensief war die Überlegung, einen Künstler meiner Generation anzusprechen, der mit seiner Arbeit in repräsentativer Weise die künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen der letzten Jahrzehnte der wiedervereinigten Bundesrepublik nicht nur begleitet, sondern massgeblich mitbestimmt hat. Ich halte Christoph Schlingensief für einen der ganz bedeutenden Künstler dieses Landes, der immer vollkommen rückhaltlos, auch sich selbst gegenüber, seine Position geäussert und behauptet hat, in aller Deutlichkeit und Direktheit, die notwendig ist, um Zustände effektiv zu kommentieren und Diskussionen auszulösen.

Für meine Entscheidung, Christoph Schlingensief nach Venedig einzuladen, gab letztendlich auch noch das Afrikaprojekt, das Operndorf in Ouagadougou, den Ausschlag. Hier wird deutlich, dass Schlingensief nicht nur für die Kunst in Deutschland repräsentativ ist, sondern seine Fragestellungen in einen transnationalen, transkontinentalen Kontext stellt. Mit dem Festspielhaus in Afrika und seiner Kooperation mit den dortigen Partnern – allen voran Francis Kéré, der mit dem Aga-Khan-Preis ausgezeichnete Architekt des Operndorfes – und vor allem auch mit der Selbstreflektion des Projekts und der Thematisierung seines eigenen Scheiterns im aktuellen Theaterstück ‚Via Intolleranza II‘, gelingt es Schlingensief, seine Analyse des ‚Deutschseins‘ und die damit verbundenen Fragen in eine globale, transnationale Dimension zu übertragen: ‚Warum wollen wir ständig dem afrikanischen Kontinent helfen, obwohl wir uns selber nicht helfen können?‘ fragt er. Bei der Zusammenarbeit mit Christoph Schlingensief im Deutschen Pavillon im nächsten Jahr, die durchaus auch eine Kontextverschiebung bedeutet, werden wir uns auf die spezifische Dynamik in Schlingensiefs Werk konzentrieren. Eine Entgrenzung der Kunst und eine Stärkung ihrer sozialen Dimension und gesellschaftlichen Relevanz sind heute dringlicher denn je.“

Und die seinerzeitige Erwiderung von Christoph Schlingensief auf seine Berufung:

„Ich habe in vielen Bereichen gearbeitet, als Film-, Theater- und Opernregisseur, Produzent, Alleinunterhalter, Mensch, auch als kranker Mensch und Christ, auch als Politiker und Performer, und ich habe mich auch immer für Künstler interessiert, die die Kunst fast zwanghaft betrieben haben, darin auch nicht unbedingt eine Unterscheidung zum Zwang des Leben-Müssens oder -Wollens gesehen haben. Eine Form von Schizophrenie war für meine Arbeit und mein Leben schon immer typisch. Wenn ich nur bei einer Sache wäre, würde ich mich langweilen, käme mein Kopf nicht in Fahrt. Ich muss zwischen der Musik und dem Bild, den Menschen und der Sprache, dem Gesunden und Kranken, dem Lustigen und Traurigen immer die Chance haben, auch das Gegenteil zu behaupten. An die Eindeutigkeit der Welt glaube ich nicht. Die Aufgabe, den Deutschen Pavillon, einen verdächtigen Repräsentationsbau, nicht für repräsentative Zwecke, sondern für künstlerische Zwecke zu benutzen, ist da genau das Richtige: eine schwere Last, aber Kunst macht leicht, was sonst schwer ist. Vielleicht ist das aber gerade das Gute daran. Ich liebe jedenfalls Risse und Gegensätze und in den nächsten Monaten werde ich herausfinden, welche Gegensätze für Venedig, den Deutschen Pavillon und Burkina Faso am produktivsten sind.“

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Susanne Gaensheimer mit Elke aus dem Moore/ifa und Markus Müller in der Pressekonferenz (Foto: Erhard Metz)

Sollte man sich wirklich keine Sorgen machen um den Gesundheitszustand des bekanntlich seit Jahren an Krebs erkrankten Schlingensief, wenn er nun – überraschend, wie es hiess – die seit vielen Wochen terminierte Auftakt-Pressekonferenz im Haus der Biennale-Kommissarin absagen musste? So nimmt es nicht Wunder, dass aus der Runde der Journalisten als eine der wenigen Fragen diejenige nach einem „Plan B“ kam. Den gebe es natürlich nicht, so Gaensheimer, Schlingensief erscheine gerade in jüngerer Zeit vitaler und energiegeladener denn je. Das wollen wir gerne annehmen, und im übrigen stellt sich die Frage nach einem „Plan B“ für einen jeden unter uns, die wir heute nicht wissen können, ob wir morgen noch am Leben sind oder gar im kommenden Jahr nach Venedig reisen können.

Gleichwohl gab die Abwesenheit Schlingensiefs – und auch das eingeräumte „weiss überhaupt nichts“ über Schlingensiefs Pläne für den Deutschen Pavillon – Anlass für hämische Kommentare in der Presse des heutigen Tages. Und es wäre zu überlegen, ob es nicht besser gewesen wäre, im E-Mail-Zeitalter die Pressekonferenz, wenn auch mit kürzester Frist, zu verschieben.

Gaensheimer, die zweite Frau in der Reihe der „Kommissare“ in der einhundertjährigen Geschichte des Deutschen Pavillons in den venezianischen Giardini Pubblici, unterstrich in ihrem Statement die gesellschaftliche Relevanz der Arbeit Schlingensiefs in ihrer Unmittelbarkeit und Authentizität, ihrer permanenten Selbstbefragung, ihrer Risikobereitschaft und Radikalität, ihrem Überschreiten und Auflösen genrespezifischer Grenzen. Und erneut äusserte sie ihr Erstaunen und Befremden über die Kritik zum Beispiel Gerhard Richters, der Schlingensief die Qualität eines Künstlers abgesprochen hatte.

In der Tat überzeugt Schlingensief in seinem bewussten und provokativen Irrlichtern zwischen Realität und Inszenierung in der heutigen Mediengesellschaft. Und auch wir sind anzunehmen geneigt, dass Provokation das einzige noch verbliebene Mittel zu sein scheint, um nicht nur in der Kunst, sondern auch in verkrusteten politischen wie gesellschaftlichen Strukturen (die heutige Bundespräsidentenwahl lässt grüssen!) aufzurütteln, Anstösse zu mobilisieren, noch irgend etwas zu bewegen.

Das Team des Deutschen Pavillons besteht neben Susanne Gaensheimer als Kommissarin und Christoph Schlingensief als Künstler aus Eugenia Teixeira (Projektleitung), Markus Müller (Presse- und Öffentlichkeitsarbeit), Christina Henneke (Pressearbeit MMK) und Natasa Radovic (Venedig – Assistenz).

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Christoph Schlingensief am 5. Oktober 2009 im Schauspiel Frankfurt mit seinem Buch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“; Foto: © Renate Feyerbacher

Laufende Informationen zur Arbeit Schlingensiefs und zur Diskussion um seine Berufung für die Biennale Venedig 2011 in: Schlingensief.com und schlingenblog.posterous.com

→ Biennale Venedig ohne Christoph Schlingensief

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