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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Albrecht Wild in der Galerie Perpétuel: „Klassiker“

Sammeln, verfremden, gestalten

Von Erhard Metz

Anthropologen und Ethnologen wissen: Der Mensch ist von seinen Urgründen her nicht nur Jäger, sondern auch Sammler – was ja nicht schlimm ist. Was sammelten und sammeln die Menschen nicht alles: zum Beispiel früher Sanella-, Köllnflocken- und Zigaretten- und heute REWE-Fussballer-Bildchen; Streichholzschachteln, nicht zu vergessen Briefmarken oder Münzen und – na klar, Bierdeckel! Meist eher banale Dinge also. Man befüllt mit einer kunterbunten Welt von Gesammeltem, heimischer bis exotischer Art, Schränke und Schubladen.

Auf Bierdeckel kommen wir später zurück. Beginnen wir mit dem Sammeln von Damen der verschiedensten Art, von Schauspieler- und Sängerinnen, Berühmtheiten, Starlets und Sternchen, solchen, die es bereits sind oder werden wollen oder mangels Befähigung nie werden können, von Pin up- und Glamour-Girls – Sammeln natürlich nicht der Damen selbst, sondern deren Darstellungen auf Fotografien! Zum Beispiel auf Postkarten. Albrecht Wild sammelt solche Postkarten, er erwirbt sie in Antiquariaten und auf Flohmärkten. Früher, als sie noch preisgünstiger waren, kisten- und kastenweise.

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„Girls“, 1993/2016, Kalender-Abrisse auf Postkarten

Aber damit nicht genug. Zwar kommt es dem Künstler auf die Namen der Abgelichteten in aller Regel nicht an. Aber es kommt etwas hinzu: Er beklebt die Postkarten mit „Kalender-Abrissen“: jenen viertelkreismässig perforierten Segmenten am Seitenende mancher Kalender, um nach entsprechenden Abrissen rasch auf das aktuelle Wochen- oder Tagesblatt zugreifen zu können. Aus diesen Vierteln entstehen Halbkreise, geometrische Muster, mittig einen Durchblick auf das Postkartenmotiv zulassend. Bei entsprechend grossen Kalendern sind die Abrisse datiert. Wobei wir vielleicht bei einem Wesenskern dieser verfremdenden Arbeiten angelangt wären: der Dimension der Zeit. Abgelaufener Zeit, aber auch erwarteter, kommender Zeit. Die Abbildungen auf den als Massenware verramschten Postkarten gewinnen eine neue Dimension und Wertigkeit: auch ein memento mori, das bekannte „alles Fleisch ist wie Gras“ aus dem 1. Petrusbrief. Und apropos „Fleisch“: das gibt es auf den meisten dieser Postkarten derart reichlich zu sehen, dass dem Überkleben neben der spielerischen schon fast eine ästhetisch-wohltuende Funktion zukommt.

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„Raquel Welch“, 1993/2016, Kalender-Abrisse auf Postkarte, gerahmt

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„Girls“, 1993/2016, Kalender-Abrisse auf Postkarten

Ein weiteres nun in der Ausstellung der Galerie Perpétuel: Man könnte in den beiden Räumen ein Damen- und ein Herrenzimmer erkennen. Wenn man dem folgt: Vom „Damenzimmer“ handelten wir soeben. Im „Herrenzimmer“ – dem strassenseitig gelegenen Ausstellungsraum – treffen wir in grosser Zahl die bereits erwähnten Bierdeckel an. Bier: immer noch ein vielfach als „männlich“ empfundenes Getränk. Und eine Bierdeckelsammlung: Haben Sie, verehrte Leserinnen und Leser, schon einmal eine Bierdeckel sammelnde Frau kennengelernt? Wir nicht.

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↑↓ „Die Perpétuel-Wand“ (Ausschnitte), 2016, Papierfilz-Collagen aus der Werkgruppe „Beermats“

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Gar manches lässt sich an Bierdeckeln – über deren werblich-ökonomische Funktion für das entsprechende Brauhaus und dessen Produkte hinaus – lesen und deuten: Ähnlich Briefmarken spiegeln sie kulturelle, gar politische Befindlichkeiten einer Region, eines Landes wider. Interessant die Darstellung von Frauen, vielfach als Kellnerinnen in sexy-feschem Dirndl vor pittoreskem Hintergrund. Interessant weiter in den Motiven eine gewisse Dominanz viriler und charakterstarker Trinkfestigkeit. Und manche Darstellungen kommen bereits auf den ersten Blick klar zur Sache: „Men think about sex“.

Albrecht Wild greift zu Messer und Schere, zerschneidet die Bierdeckel und fügt – aus jeweils drei Exemplaren – deren Teile zu wunderlichen, oft witzigen oder gar grotesken Collagen zusammen. Wie so manche Dinge des Alltags bilden die Papierfilze zunächst ganz einfach ein Ausgangsmaterial für künstlerisches Spielen und Treiben. In ihrer kaleidoskopartigen Transformation jedoch geraten diese zu ganz anderen Zwecken bedruckten Pappen zu einem eigenen kleinen Kosmos. Erst recht, wenn sie in Rudeln von Hunderten solcher Collagen einen Raum „tapezieren“ und damit in Besitz nehmen. Man schaut hin und lässt den Blick von Ensemble zu Ensemble gleiten. Und: Es darf dabei geschmunzelt werden!

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Einen Solitär des europa- und weltweit ausstellenden Städelschulabsolventen und Meisterschülers von Thomas Bayrle gilt es schliesslich im rückwärtigen Galerieraum zu betrachten: eine grossformatige Arbeit aus dem Jahr 1994, eine Auseinandersetzung mit Keilrahmen, Leinwand, ungewöhnlichen Malmitteln und – wiederum – Schnitten, Gemälde und reliefartiger Korpus zugleich. Lucio Fontana und alle nachfahrenden Leinwandschlitzer lassen grüssen – und doch gelingt Albrecht Wild ein faszinierendes Werk, angesiedelt zwischen spielerischer Materialbehandlung und formaler Strenge.

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„Bild für einen Schlitz“, 1994, Betonfarbe und Flammruss in Acryl auf Nessel, 142 x 96 x 20 cm

Albrecht Wild, „KLASSIKER“, Galerie Perpétuel, nur noch bis 11. Juni 2016; zur Finissage (11 bis 14 Uhr) wird, versprechen Künstler und Galerist, so manches Fläschchen Bier geöffnet …

Abgebildete Werke © VG Bild-Kunst, Bonn; Fotos: Erhard Metz

→ Albrecht Wild zeigt „Literatur der Armut“

 

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