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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Kultur und Zivilisation

Ein Essay zur Unterscheidung

Von Gunnar Schanno

Kultur ist ein schillerndes Phänomen. Mit dem Begriff Kultur wird bezeichnet, was nicht dem Verbrauch, dem Konsum dient, was sich dem Geschmacklichen, dem Rationalen entzieht, was Zeitlichkeit übersteigt. Kultur wird in die Nähe des Wahren, Schönen und Guten verortet – darin hat sie hoheitlichen Charakter. Der Kultur werden als hauptsächliche, doch unabgegrenzte Ausprägungen die Kunst, das Brauchtum und die Religion zugesprochen. Für alle gilt, dass sie als Phänomene des Kulturellen in welcher Ausprägung auch immer wurzeln in der Tradition und ihren Wert gewinnen im bleibend kreativ Geschaffenen, im gelebten Andenken und in verkündeter Botschaft.

Tradition wird in besonderer Weise reklamiert als Legitimierung des Kulturellen. Tradition innerhalb ihrer Epochen, Stilen oder Formen soll Andenken, Erhalt, Fortführung des kulturell Geschaffenen sein und letztlich auch Schutz bieten vor dem Vergessen, wenn nicht gar dem Vernichten von Kunst, wenn es um ihre materialisierten Einzelartefakte geht. Die Tradition ist also wie ein Verbindungsmodus, der Zusammenhaltskraft, Faser- und Brückengeflecht bildet zwischen den kulturellen Ausprägungen sowohl des bildend Künstlerischen als auch den besagten Kulturausprägungen von Glauben, Sitten und Bräuchen. Über die Tradition erhält Kultur als Pan-Phänomen ihren Status des Erhaltens- und Schützenswerten.

Doch während der materialisierte Kunstgegenstand selbst, ob – beispielsweise – als Gemälde oder Plastik, seine Vollkommenheit in sich selbst trägt – welcher kritischen Wertung auch immer ausgesetzt – , während also der künstlerische Prozess im Gegenständlichen der bildenden Kunst zum Abschluss gekommen ist, so wird Kultur in ihrer in Tradition gelebten Ausprägung als Glauben, Sitten und Bräuche einem fortgesetzten Erkenntnisprozess unterworfen. Deshalb können über Generationen überkommene integritätsverletzende Riten und Bräuche unter menschenrechtlichen Aspekten keinen Anspruch mehr erheben auf Schutz dessen, was als Kulturgut bezeichnet wird – es soll hier nicht weiter Thema sein.

Um dem schillernden Phänomen Kultur etwas mehr Kontur zu geben, sei ihr Gegen- und Komplementärbegriff der Zivilisation zu Hilfe genommen. Zivilisation ist Nichtkultur. Während Kultur im Tiefsten immer unkonkret bleibt, so ist Zivilisation immer konkret und bestimmbar – in Wertung, im besagten Geschmacklichen, in ihrer Zeitverhaftetheit oder Unabgeschlossenheit. Ein Kunstgegenstand, zum Beispiel ein Gemälde, eine Plastik oder ein bauliches Stilcharakteristikum, welcher Qualität auch immer, ist nach Abschluss des künstlerischen Schaffens gänzlich abgeschlossen, in gewisser Weise vollkommen. Selbst ein Torso gilt im kulturellen Kontext nicht als defekt, als bar künstlerischen Wertes, vielmehr wird auch ihm museale Qualität zugesprochen. Ein Kunstwerk kann also nicht ergänzt, aktualisiert werden, es ist wie es ist auf Ewigkeit angelegt – auch wenn es von dinglichem Verfall betroffen ist oder von Menschenhand zerstört wird.

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Spruchbanner an der Ruine der Alten Oper Frankfurt: „Rettet das Opernhaus“, ein Spendenaufruf der gleichnamigen Bürgerinitiative, Aufnahme aus den 1950er Jahren; Nachweis: wikimedia commons/Kurt Liese Harald-Reportagen

Alle weiteren Ausdrucksformen der Kultur, wie es Ritus, Zeremonie, althergebrachte Bräuche des Religiösen, wie es auch das Volkstumhafte, die regionalen Gepflogenheiten, zelebrierte Formen der Festlichkeiten darstellen: Sie sind nicht minder dem Zeitlichen entzogen und werden nicht selten, selbst in Unkenntnis ihrer ursprünglichen Anlässe, als auf Ewigkeit erwünschte Traditionen gepriesen. Für alle Ausprägungen des Kulturellen ist Kulturgut der generalisierende Begriff – und wird sogar ausgestattet mit Schutzcharakter bis auf die institutionalisierte Höhe von Weltkulturerben einer Unesco.

Im Kulturellen und ihrem grundsätzlich schöpferischen Wesen und freilich auch ihrem Rezipiertwerden ist Herz und Gemüt, Emotion, Kreativität, Genie, Assoziation. Im Zivilisatorischen in all seinen produktiven Prozessen ist Funktion, Ge- und Verbrauch. Als Produkt ist der zivilisatorische Gegenstand angelegt auf Zeit, auf Weiterentwicklung, Verbesserung, Veränderung. Jede Innovation zum neuen Gegenstand hin lassen, gegensätzlich zum Kulturgegenstand, den alten obsolet werden. Ein quasi torsohafter zivilisatorischer Gegenstand ist defekt und zur Aussonderung bestimmt.

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Jean-Jacques-François Le Barbier (1738–1826), Déclaration des droits de l’homme et du citoyen (Repräsentation der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte), um 1789, Öl auf Holztafel, 71 × 56 cm, Carnavalet Museum Paris; Nachweis: wikimedia commons

Zivilisation ist Fortschritt, Optimierung, Austausch, Ersatz. Die Wirtschaft lehrt uns dies, ruft es in die Wegwerfgesellschaft hinein in all ihren Werbebotschaften. Ihrem Gegenstand gegenüber ist Zivilisation herz- und emotionslos. In den kulturellen Ausdrucksformen des Gesellschaftlichen sind Lifestyles und wechselnde Moden als temporäre Hypes wohl nur noch Teil des zivilisatorisch Verbrauchshaften ohne Traditions- oder Brauchtums- und im weiteren Sinne ohne hoheitsvollen Kulturanspruch.

Es sei noch zu vermerken, dass im Reich des Gegenständlichen zwischen Kultur und Zivilisation auf einmal geschehen kann, dass auch der zivilisatorische, nicht- oder nur quasikünstlerisch produzierte Gegenstand zum kulturellen Artefakt erhoben wird: Wenn sein Benutzer zum Bewahrer wird, weil dem Gegenstand gegenüber Emotion und Herz, Erinnerung und plötzliche Wertigkeit entgegenschlägt, wenn die kleine schlichte Tasse oder Vase nicht in der Entsorgung enden, sondern bleibenden Platz in der Vitrine erhalten. Heimatmuseen sind Orte, wo auch schlichte Gegenstände aus ihrer zivilisatorischen Verbrauchsbestimmung zum zeitlosen Kulturgut, von der Banalität in die museale Noblesse avancieren. Kultur und Zivilisation sind wie Vexierbilder, sind wie eine Medaille oder Münze, die auf der Vorderseite das kulturelle Signal eines Portraits, eines Artefakts gibt und auf der Rückseite die zivilisatorisch bestimmende Zahl.

Nur als Hinweis sei daran erinnert, ohne sprachgeschichtlich näher darauf einzugehen, dass die deutsche Sprache wie wenige Sprachen eine so deutlich hilfreiche Trennung zwischen den beiden Begriffen Kultur und Zivilisation bereithält. Die begrifflichen Unterscheidungen in anderen Sprachen bis in die lateinische civitas des antiken Rom und der aus dem Agrarischen stammenden Bedeutung seiner cultura sollen hier nicht Thema sein. Doch gerade auch im Französischen ist die civilisation immer in Verbindung mit avancement, progrès verbunden, während culture affin ist mit Begrifflichkeiten des Vagen, des Meinens, des Urteilens, der Lebensformen.

Vom Bewusstsein geradezu dialektisch scheinender Unterschiedlichkeit und zugleich Aufeinanderbezogenheit der Pan-Phänomene Kultur und Zivilisation mag auch Walter Benjamins Diktum vom Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit (1936) geleitet worden sein. So kann Kunst also auch Opfer zivilisatorischer Prozesse werden. Dem unikaten Kulturgut des Originals wird das technisch-zivilisatorisch reproduzierte Duplikat, Triplikat, Multikat als Ware zur Seite gestellt. Darin liegt die zivilisatorische Vereinnahmung von Kulturgut als Gebrauchsgut, vom Kunstwerk als in den ökonomischen Prozess integriertem Nutzwerk. Das künstlerische Werk wird Zwitter zwischen schöpferischem Ursprungswerk und technisiert produziertem Abbild. Der Begriff Design drängt sich auf als kulturell-künstlerisches Additiv, das dem technisch vielfach reproduzierten Gebrauchsgut hinzugewonnen wird.

→ Eine Zwischenbetrachtung über die Natur
→ Kultur – Profiteur der Zivilisation

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