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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

55. Biennale Arte Venedig 2013 (1)

Die Goldenen Löwen

Von Erhard Metz

Vor Gericht und auf hoher See ist man allein in Gottes Hand – so lautet eine alte Weisheit. Wir möchten hinzufügen: vor Gericht, auf hoher See und vor mancher Kunstpreis-Jury. Die längste Warteschlange – wohlgemerkt des Fachpublikums und der Journalisten an den exklusiven Preview-Tagen – bildete sich vor dem Auftritt Anri Salas im französischen (deutschen) Pavillon, eineinhalb Stunden Wartezeit und mehr waren angesagt, die zweitlängste vor dem deutschen Auftritt (im, nach dem Pavillontausch, französischen Gehäuse), die drittlängste vor dem Pavillon der USA. Daraus Schlüsse zu ziehen für die Vergabe der Goldenen Löwen wäre jedoch weit verfehlt gewesen – wobei wir keinesfalls einer Publikumsjurierung das Wort reden wollen! Aber so manche Erwartung oder zumindest Hoffnung wurde denn doch wohl enttäuscht.

Paolo Baratta, Präsident der Biennale di Venezia, und der diesjährige Biennale Arte-Kurator Massimiliano Gioni

Die Jury – Sofía Hernández Chong Cuy (Mexiko), Francesco Manacorda (Italien), Jessica Morgan (Grossbritannien, Jury-Präsidentin), Bisi Silva (Nigeria) und Ali Subotnick (USA) – vergab den Goldenen Löwen für den besten Künstler dieser Biennale an den Deutsch-Briten Tino Sehgal und den Goldenen Löwen für die beste nationale Präsentation an Angola, ferner den Silbernen Löwen für den vielversprechendsten jungen Künstler an Camille Henrot, Frankreich.

Goldener Löwe für Tino Sehgal

Tino Sehgal, 1976 in London geboren, studierte in Berlin, wo er heute lebt und arbeitet, sowie in Essen so unterschiedliche Sujets wie Choreografie und Volkswirtschaftslehre. Er zählt sicherlich zu den intellektuellsten Künstlern weltweit. Gemeinsam mit Thomas Scheibitz gestaltete er zur Biennale 2005 den Deutschen Pavillon. 2010 trat er im New Yorker Solomon R. Guggenheim-Museum, 2012 in der Londoner Tate Modern und auf der Kasseler documenta 13 auf. Er ist für den diesjährigen Turner Prize nominiert. In Frankfurt am Main ist er durch seine künstlerisch-kuratorische Re-Installation der retrospektiven Ausstellung “Specific Objects without Specific Form“ mit Arbeiten von Felix Gonzalez-Torres 2011 im Museum für Moderne Kunst bekannt. Im gleichen Jahr war er Gastredner in der MMK-Tischgesellschaft.

Sehgals „Werke“, besser gesagt künstlerische Produktionen, bei denen er oft mit sich bewegenden, sprechenden oder singenden Laiendarstellern arbeitet, sind hochkonzeptuell und gleichsam immateriell. In seinen über Performances hinausgehenden Aktionen, die weder filmisch noch fotografisch noch auf Tonträgern dokumentiert werden, verwickelt er die Besucher in Diskussionen über gesellschaftlich relevante Themen. Die Jury begründete ihre Entscheidung mit der „Klasse“ und der „Innovation“, mit der Sehgal in seinem Werk zur „Öffnung der künstlerischen Gattungen“ beigetragen hat.

Sehgal stellt in seiner Kunst jeweils einmalige, singuläre Situationen her. Sie erschliesst sich auch kunstaffinen Betrachtern nur recht schwer. An zwei Preview-Tagen trafen wir zu unterschiedlichen Zeiten im Zentralen Ausstellungspavillon in den Giardini bei Sehgals Aktionen im Saal der Bildtafeln von Rudolf Steiner (1861 bis 1925, Esoteriker, Philosoph und Begründer der Anthroposophie) jeweils nur wenig mehr als eine „Handvoll“ an Zuschauern an, die sich auf das Geschehen der am Boden kauernden und liegenden, stammelnden oder singenden Performer einliessen.

Strahlender Biennale-„Sieger“: Tino Sehgal

Goldener Löwe für Angola: (v. l.) Kurator Stefano Rabolli Pansera, der Fotojournalist und Künstler Edson Chagas, Kuratorin Paula Nascimento und Rosa Cruz e Silva, Kulturministerin von Angola

Kaum jemand ausser der Jury dürfte an den Preview-Tagen den Auftritt des zum ersten Mal an einer Kunst-Biennale teilnehmenden, aber bereits bei der Architektur-Biennale 2012 vertretenen Landes Angola gesehen haben, angesiedelt im Palazzo Cini auf Dorsoduro fernab der traditionellen Ausstellungsflächen Arsenale und Giardini. Das wird sich nach der Verleihung des Goldenen Löwen geändert haben. „Luanda. An Encyclopedic City“ heisst der Ausstellungsbeitrag mit Fotografien, deren Drucke die Besucher mitnehmen können – also ebenfalls eine eher performative Arbeit, die mit ihrem Titel wohl als einzige auf das Motto der diesjährigen Biennale „Il Palazzo Enciclopedico“ eingeht.

Können ihr Glück kaum fassen: Paula Nascimento und Edson Chagas

Silberner Löwe für Camille Henrot

Als „vielversprechendste junge Künstlerin“erhielt die 35jährige Camille Henrot den Silbernen Löwen. Ihre Video-Arbeit „Coupé/Décalé“ ist im dritten Saal der Corderie auf dem Arsenale-Gelände zu sehen. Henrot stellte bereits in Paris im wiedereröffneten Palais de Tokyo, im Jeu de Paume, im Musée d’Art Moderne sowie im Centre Pompidou aus. Eine ihrer skulpturalen Arbeiten ist derzeit bei den 9. „Blickachsen“ im Bad Homburger „Kaiser Wilhelms Bad“ zu sehen.

Nicht von der Jury, sondern vom Biennale-Vorstand auf Vorschlag des Kurators Massimiliano Gioni ausgezeichnet wurden Maria Lassnig und Marisa Merz: Sie erhielten jeweils den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk.

Maria Lassnig, 1919 im österreichischen Kappel am Krappfeld geboren, kam nicht zur Preisverleihung angereist. Die 93jährige dankte mit ihren verlesenen, wohlgesetzten Worten für die (allzu) späte Würdigung ihrer Lebensleistung, und ausserdem bereite ihr, wie sie schrieb, das viele Wasser rund um Venedig Angst.

Solche Angst kannte Marisa Merz, 1931 in Turin geboren, nicht, als sie ihren Goldenen Löwen in Empfang nahm. Allein dessen grosses Gewicht „beklagte“ die zierliche 82jährige Künstlerin verschmitzt. Bereits 2001 hatte sie den „Spezialpreis“ der Biennale-Jury für ihr Lebenswerk erhalten.

Goldener Löwe für Marisa Merz

Vom Publikum der Preisverleihungs-Zeremonie gefeiert: Marisa Merz

Fotos: Erhard Metz

→ 55. Biennale Arte Venedig 2013 (2)

→ Susanne Gaensheimer Kommissarin des Deutschen Pavillons für die 55. Biennale Arte di Venezia 2013

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