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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Vive Reiser!“ im caricatura museum frankfurt

caricatura museum frankfurt: Treppenaufgang

Sie war ein Fest der besonderen Art: Die Eröffnung der Ausstellung „Vive Reiser!“ im Frankfurter caricatura museum. Denn Alice Schwarzer war in die deutsche Hauptstadt der Karikatur und in das „schönste Museum der Welt“ (wie Museumsleiter Achim Frenz nie müde wird zu betonen) angereist, um die Schau mit einer hinreissenden Laudatio zu eröffnen.

Kulturdezernent Felix Semmelroth …

… und Museumsleiter Achim Frenz würdigen das Œuvre eines „Jahrhundertkarikaturisten“

Eine verhältnismässig kurze Lebensspanne war Jean-Marc Reiser beschieden: Im April 1941 im lothringischen Réhon geboren, erlag er bereits Anfang November 1983 im Alter von nur 42 Jahren in Paris seiner Knochenkrebserkrankung. Der bevorstehende 70. Jahrestag seines Geburtstags war dem caricatura museum Anlass, Reiser – als erstem nicht deutschen Künstler – eine Einzelausstellung zu widmen. Mit rund 240 zum Teil noch nicht veröffentlichten Exponaten geriet sie zur bislang weltweit grössten ihrer Art, feinfühlig kuratiert von Reiser-Übersetzer und Titanic-Redakteur Bernd Fritz. Wie das, fragt sich mancher, wieso in Deutschland und nicht in Frankreich, in Paris? Nun, da ist dem caricatura museum ein Coup gelungen und zugleich der sichtbare Beweis seiner besonderen, auch international anerkannten Kompetenz: eben doch als „schönstem Museum der Welt“ in der Satire-Hauptstadt Frankfurt am Main, wie Professor Felix Semmelroth betonte, seit den Anfängen im „Vormärz“ und den Revolutionsjahren 1848/1849 mit dem ersten deutschen Parlament in der Frankfurter Paulskirche nebst allen politischen Auseinandersetzungen, die schon bald die seinerzeitigen Karikaturisten und Satiriker auf den Plan riefen; über den Verlag Bärmeier & Nikel, über „Pardon“ und „Titanic“ bis hin zur legendären Neuen Frankfurter Schule, der die Dauerausstellung des Museums gewidmet ist.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Jean-Marc Reiser soll – einst von der Kasseler Staatsanwaltschaft in den 1980er Jahren rüder Pornografie und Frauenfeindlichkeit bezichtigt – ein eher zurückhaltender, herzensguter, höflicher, fast schüchterner Mensch gewesen sein, „sanft und freundlich wie ein Engel“, so wird überliefert. Alice Schwarzer, die ihn als kämpferische Feministin damals gegenüber den spiessiger Prüderie entwachsenen Anschuldigungen verteidigte und später in gemeinsamen Pariser Jahren eine Freundin wurde, bezeugt es in ihrer Laudatio, und sie wiederholt es langsam und eindringlich, damit es ein jeder Besucher der Eröffnung im völlig überfüllten Museum auch verinnerlichen kann: dass Pornografie „die Verknüpfung von sexueller Lust mit der Lust an Erniedrigung und Gewalt“ sei. Eine solche Verknüpfung habe es bei Reiser niemals gegeben.

Michèle Reiser, die Witwe des Künstlers, und die Laudatorin Alice Schwarzer

Nein, in all seinen respektlosen, frechen, provokativen und subversiven Zeichnungen und Texten sind, darin ist sich die Fachwelt heute einig, Frauen zwar oft als laut und hysterisch, nie aber herabwürdigend oder erniedrigend dargestellt; seine kritisch-scharfe Feder wandte sich vielmehr gegen eine zügellos-verrohte,  verfressene, ungepflegte und dabei sexgierige Männerwelt.

So „warnt“ denn im caricatura auch nur dem Schein nach ein entsprechendes Schild – noch 2004 übrigens glaubte das Centre Pompidou vor einer Reiser-Ausstellung mit dem Hinweis warnen zu müssen „Vorsicht! Einige der ausgestellten Bilder können die Gefühle einzelner Besucher verletzen“ – vor dem Betreten einer etwas abseits gelegenen Abteilung der Ausstellung …

… in die das nun erst recht neugierig gewordene Publikum hineinströmt und sogleich der von höchster feministischer Autorität ausgesprochenen Ermunterung begegnet:

Reisers Kindheit und Jugend waren schwer: Vaterlos in einem Millieu an der „Untergrenze“ der Gesellschaft aufgewachsen und ohne Schulabschluss kam er bei bäuerlichen Pflegeltern unter und musste später nach dem Umzug nach Paris als Laufbursche und Handlanger auch zum Lebensunterhalt seiner Mutter beitragen. Im Alter von achtzehn Jahren veröffentlichte er erste Zeichnungen: er zeichnete gegen die Erbärmlichkeit von Menschen, vor allem von Frauen in dieser gesellschaftlichen Situatiation an.  Sozialpolitische Fragen zu Arbeit, Erziehung und Umwelt, ein Anti-Militarismus und Anti-Imperialismus, die Emanzipation der Frau, die zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die Sexualität wurden seine Themen.

VIVE REISER!: „Pik Fünf“, unveröffentlicht, nicht datierbar, Zeichnung: Jean-Marc Reiser

Dann kam der Erfolg: Seit 1963 zeichnet Reiser – es bedeutet den Durchbruch – für das berühmte, 1970 vom französischen Innenminister verbotene Satiremagazin „Hara-Kiri“; der Journalist und Karikaturist François Cavanna entdeckt Reisers Talent. In der Folge arbeitet Reiser für das „Hara-Kiri“-Nachfolgemagazin „Charlie Hebdo“ und das Comic-Magazin „Pilote“ sowie als Kolumnist der Zeitungen „Le Monde“ und „Le Nouvel Observateur“. Seine Geschichten erscheinen in verschiedenen Zeitschriften sowie in seinen Büchern, die Millionenauflagen erreichen („Tierleben“, „Großartige Zeiten!“, „Frauen über alles!“, „Ferien über alles!“, „Fantasien“, „Unter Frauen“ und „Der Schweinepriester“). Reiser wird auch in Deutschland bekannt. Das Satiremagazin „Titanic“ druckt ihn, seine Bücher, zunächst im „Semmel Verlach“ und anschliessend im Achterbahn Verlag, erzielen hohe Auflagen.

VIVE REISER!: „Y’en aura pour tout les monde“/“Es ist genug für alle da“, 1982/1989, zusammen mit Coluche (Michel Gérard Joseph Colucci); Zeichung: Jean-Marc Reiser & Coluche

„Vive Reiser!“ im caricatura museum frankfurt – bis 26. Juni 2011

(Bildnachweis: caricatura museum frankfurt und FeuilletonFrankfurt; Fotos – mit Ausnahme der Zeichnungen von Jean-Marc Reiser – FeuilletonFrankfurt)

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