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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Begegnung im Dunkeln: Das DialogMuseum in Frankfurt am Main

Von Erhard Metz

Wir haben eine erstaunliche, ja kaum je für möglich gehaltene Erfahrung gemacht.

Wir begaben uns am frühen Nachmittag eines durchsonnten, helllichten Tages in die absolute Dunkelheit, die Dunkelheit völlig blinder Menschen. Eine Selbsterfahrung, nicht ohne Risiko. Eine jüngere Frau in der achtköpfigen Gruppe – mehr als acht Personen durfte sie nicht umfassen – bekam bereits nach wenigen Minuten Dunkelheit eine Art Panik und schied aus dem Experiment aus, bevor es richtig begonnen hatte. Wir und die anderen sechs Teilnehmerinnen und Teilnehmer hielten es aus.

Und nun die erstaunliche Erfahrung: Nach Wiedereintritt in die Helligkeit fühlten wir uns in den ersten Momenten in einer gewissen Weise verunsichert, aus einer Obhut entlassen, ein Stück einsam, allein.

Was war geschehen?

Wir besuchten das DialogMuseum in Frankfurt am Main. Wir nahmen dort an einer Führung teil, im wahrsten Sinne des Wortes. In vollkommener Dunkelheit. Eineinhalb Stunden lang. Unser Führer: ein Blinder.

Ungelenk fuchtelten wir mit dem Blindenstock, der uns am Eingang gereicht wurde, über die verschiedenen Böden, die es zu betreten, nein zu erkunden, mit den Füssen zu ertasten galt. Unser Führer lockte uns, half uns mit seiner Stimme den Weg finden über einen Parcours, der dem Sehenden nur Selbstverständliches bedeutet, dem vorübergehend „Erblindeten“ jedoch zu einer Verkettung von Abenteuern geriet, von Aufgaben, die es zu bewältigen galt. Er führte durch verschiedene Erlebnisräume, einschliesslich einer Fahrt im offenen Boot über den Main. In einem Akustikraum erwarben wir einen Hauch von Ahnung davon, was es bedeutet, mit den „Ohren zu sehen“. Wir lernten in der Finsternis, wie sich Bäume, fliessendes Wasser, Häuserwände, Briefkästen, Geldautomaten, öffentliche Telefonsäulen, Exponate in einem Skulpturenmuseum oder Parkbänke anfühlen, um sie zu „sehen“.

In der von einer auf die andere Minute über uns hereingebrochenen Hilflosigkeit – schon nach wenigen Schritten und Wegbiegungen wussten wir nicht mehr, wo rechts oder links, wo vorn oder hinten ist – entwickelten wir eine besondere Art von Vertrauen zu unserem blinden Führer, dessen Stimme und freundschaftlichen Aufforderungen wir folgten wie kleine artige Kinder dem Ruf ihrer Eltern. Und wir ertasteten die Personen unserer kleinen Gruppe, waren froh, eine Schulter ergreifen, einen Arm, eine Hand finden zu können, die uns gewiss sein liess: Wir sind nicht allein.

Eineinhalb Stunden in völliger Dunkelheit gerieten zu einer enormen Spanne an Zeit, in der sich für uns ein eigenartiger Zustand eines Sichhineinfindens in unser Geschick ergab. Zunehmend ein wenig mutiger setzten wir Schritt um Schritt die Füsse auf den Grund, tasteten mit dem Blindenstock in einem schulterbreiten Segment den zu beschreitenden Boden ab, den Erzählungen unseres Führers lauschend, in welcher Umgebung wir uns gerade befanden: in einem Garten, an einer von Autos befahrenen Strasse, in einer kleinen Bar. Uns erfasste der Beginn einer ganz kleinen Ahnung davon, wie es sein könnte, ein Leben in völliger Dunkelheit einzurichten. Und ganz wichtig: Wir fingen an zu verstehen, warum das DialogMuseum so und nicht anders und schon gar nicht „Blindenmuseum“ heissen kann.

Dunkelheit

Mehr als nur Dunkelheit: im Frankfurter DialogMuseum

Und beim allmählichen, die Augen dennoch schmerzenden Übergang ins Tageslicht am Ausgang des Parcours spüren wir es, dieses eigenartige Gefühl: Wir sind entlassen aus der Obhut unseres blinden Führers, in der wir uns schon so sehr eingerichtet hatten, wir sind wieder auf uns selbst gestellt.

Im DialogMuseum kehren sich die Verhältnisse um: Der Sehende wird zum Blinden, der geführt werden muss, der Blinde als „Sehender“ zu dessen Führer. Wir werden ihn, unseren Führer, der als Jugendlicher völlig erblindete und der, wie er sagte, nicht bereit war, „nur wegen der Erblindung sein Leben aufzugeben“, nicht sehend kennenlernen; das Museum wahrt die Anonymität.

Das 2005 gegründete, in der Form einer GmbH geführte DialogMuseum wird von der Agentur für Arbeit, dem Landeswohlfahrtsverband (Integrationsamt) Hessen und der Stadt Frankfurt am Main gefördert. Zu den Führungen in Gruppen bis zu acht Personen ist eine zumeist längerfristige Voranmeldung erforderlich.

 

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